Stephanie
Stephanie, 29, selbstständig, Initiatorin Catcalls of Leoben, Single, keine Kinder
Und so blieb ich still.
“Der Sebastian hat dich an den Haaren gerissen und dich beschimpft? Freu dich doch. Das heißt, er mag dich.” Dieser Satz ist nur einer von hunderten, die mich heute dazu bringen, unwillkürlich das Gesicht zu verziehen. Nur einer von den Sätzen, die dazu beigetragen haben, dass mir in späterer Folge viele schlimme Dinge passiert sind. Er ist generell relativ repräsentativ für die Art, wie unzählige Frauen erzogen wurden.
Buben waren in meiner Kindheit wild, ungestüm, unbezähmbar – bei mir als Mädchen war es vor allem wichtig, höflich zu sein. Nett. Zurückhaltend. Fügsam. Die Menschen, die mich erzogen, haben das wohl nicht mit Absicht vermittelt – auch sie wurden in eine tief verankerte Struktur voller toxischer Rollenbilder und Sexismen hineinsozialisiert. Körper und Psyche meiner Mutter wurden und werden ebenso ausgebeutet wie die ihrer Mutter. Und ihrer Großmutter. Aufopferung für die Familie, den Sinn irgendwann in der Kindererziehung finden, während Männer das Geld heimbringen. Hinterfragt hat das wohl niemand, sonst wäre ich anders aufgewachsen. Und so blieb ich still.
Ich lernte zurückzustecken, meine Grenzen von anderen setzen zu lassen und vor allem alles zu tun, um nicht unangenehm aufzufallen. Weil “das machen brave Mädchen nicht.” Ich verzichtete auf die coolen Dinos und Lego-Spielsachen, die nur mein Bruder geschenkt bekam, passte schon als Kleinkind auf meine jüngeren Geschwister auf, gab mich rücksichtsvoll und versuchte, alle Anforderungen akribisch zu erfüllen. Klappte etwas nicht, gab ich mir selbst die Schuld. Und blieb still.
In der Schulzeit ging es dann los mit weiteren gut gemeinten und kontraproduktiven Ratschlägen wie “Zieh das nicht an, dann lenkst du den Lehrer ab. Und die Buben sind ja auch schon in einem gewissen Alter.” Selbstverständlich richtete ich mich danach, immerhin wollte ich mich auf keinen Fall in eine unangenehme Situation bringen. Mich schämen müssen für mein etwaiges provokatives Fehlverhalten. Und so blieb ich still. Blätterte in meinen Mädchenzeitschriften und informierte mich, was zu tun war, um meine Persönlichkeit und mein Aussehen an die Wünsche meines “Schwarms” anzupassen. Zeitgleich begannen erwachsene Männer mir auf der Straße hinterherzupfeifen, nachzurufen. Das verunsicherte mich und machte mir Angst – glücklicherweise konnten mich Menschen in meinem Umfeld damit beruhigen, dass das doch “alles Komplimente” seien und ein Zeichen dafür, dass ich “jetzt erwachsen” wäre – begehrenswert. Wie schön. Mein Körper als offen sexualisierte Projektionsfläche männlicher Respektlosigkeit und Macht. Trotz Unwohlsein schien das alles so seine Berechtigung zu haben. Ich lächelte weiter schüchtern, beschleunigte meinen Schritt, versuchte wegzuhören. Und
so blieb ich still.
Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit 16 anfing auszugehen, obwohl mein jüngerer Bruder schon seit Längerem des Nachts unterwegs sein durfte. Das Thema Fortgehen selbst betrachtete ich mit neugierigem Argwohn, immerhin schien das eine Welt voller Gefahren zu sein. Warum sonst sollten mir Menschen ernst-besorgt Sätze zuraunen wie “Lass dein Getränk nicht unbeaufsichtigt stehen”, “Trink nicht zu viel, verlier nicht die Kontrolle”, “Zieh keinen kurzen Rock an”, “Schmink dich nicht zu viel, das könnte wie eine Einladung wirken”, “Geh niemals ganz alleine im Dunkeln nach Hause”.
Ich wurde von meiner Mutter zudem vehement vor Männern gewarnt. Vor Männern, die die Kontrolle verloren, “weil die halt so sind, die haben sich nicht im Griff”, Männern, die Grenzen überschritten und junge Frauen als “Beute” sahen. Vor Männern, die sich exakt so verhielten wie ihr eigener heranwachsender Sohn.
“Betrunkene Männer suchen halt Körperkontakt”, “Die wollen alle nur das Eine und dann bist du nur eine Kerbe in ihrem Bettpfosten”, “Die wollen dich mit Alkohol abfüllen, damit du nicht mehr Nein sagen kannst”. Ich versuchte alles zu vermeiden, verhielt mich den Regeln entsprechend und trotzdem passierte mir natürlich bereits mit 16 (fast) etwas Schlimmes. Der nette Nachbarsjunge versuchte mich nach dem Schmusen beim Fortgehen in seiner Waschküche zu
vergewaltigen. Ich konnte rausrennen und schämte mich so sehr, dass ich es kaum erzählen wollte. Die Reaktion meiner Mutter nach meinem zögerlichen Geständnis ein paar Tage danach: “Ja warum gehst du denn auch mit ihm mit, wenn er so betrunken ist?!” Ich fühlte mich dreckig und dumm und es gab keinerlei Konsequenzen für den Fast-Täter. Das brannte sich in mein Gedächtnis ein – ab nun würde ich nichts mehr falsch machen. Und so blieb ich still.
Im Laufe meiner Fortgehen-Ära in Kärnten wurde ich jedes. einzelne. Mal. mindestens einmal bedrängt, begrabscht oder anzüglich zugetextet. Meine lächelnd gehauchten “Oh danke, aber ich bin heut nur mit meinen Freundinnen hier, hihi” wurden ebenso ignoriert wie meine erzürnten “Tu die Hand da weg!”.
Ich wurde nicht ernst genommen, als “hysterisch” bezeichnet, als “verklemmt” oder als “Fotze”. Es wurde versucht, mich bewusstlos zu machen und ins Auto zu ziehen, ich wurde für meinen Rausch kritisiert, meine Wortwahl, meine Lautstärke, meine Körpersprache. Bis ich irgendwann von selbst aufhörte zu trinken. Und so blieb ich still.
Auch meine bisherigen Beziehungen waren von starren Rollenbildern geprägt – mein gleichaltriger erster Partner wurde in den Himmel gelobt, wenn er mal den Abwasch machte oder mir “beim Kochen half” – in unserem gemeinsamen Haushalt. Liebevolles wurde nur heimlich ausgetauscht, weil ich war ja “die Olte” und man(n) schnell von mir genervt. Ich wurde vor seinem Freundeskreis an den Herd oder Bier holen geschickt, durfte selbst nicht mittrinken, mein Handy wurde kontrolliert, denn mein Freund war eifersüchtig, mein Äußeres wurde be- und abgewertet. Ich war ganz eindeutig im “Besitz” eines Mannes. Und das schien ja das Ziel zu sein, hatten die Mädchenzeitschriften früher geschrieben. Ich sollte wohl glücklich sein damit. Und so blieb ich still.
Das Ganze prägt mich bis heute und ich weiß nach wie vor nicht, wie ich mir eine respektvolle Beziehung auf Augenhöhe vorstellen kann. Als ich Jahre später aus dem Ganzen ausbrach und nach Graz zog, hatte ich in meinem privaten sowie auch beruflichen Umfeld derart viel an
Alltagssexismus erfahren, dass ich es heute für wahrlich erstaunlich halte, dass es mir irgendwann möglich war, das große Problem dahinter zu sehen.
Vieles davon habe ich bis heute verdrängt. Ich war im Job mit Worten, Fragen, Blicken, Gesten erniedrigt worden. Ich hatte mich völlig für mein familiäres Umfeld aufgeopfert, weil es von mir erwartet wurde. Ich hatte meine Grenzen so oft überschreiten und mit Füßen treten lassen, weil mir nie gezeigt wurde, wie ich lernen sollte, darauf zu achten. Irgendwann wollte ich nicht mehr still sein.
Deswegen setze ich mich heute dafür ein, aufzuklären. Sichtbar zu machen, was für uns “normal” und zutiefst ungerecht ist. Ein System der Unterdrückung und Inanspruchnahme von Frauen, das vom Kapitalismus gewollt ist. Ein System, das uns heute mit der trügerischen Annahme füttern möchte, es sei “eh alles schon viel besser”, nur weil sich der harte Kampf der Frauen irgendwann bemerkbar gemacht hat – und deswegen weiter zu gehen hat. Bis all das, was Frauen systematisch verunsichern, unterdrücken und klein halten soll, die nächsten Generationen nicht mehr so dermaßen beeinflusst. Bis sie sich so stark fühlen, dass sie keine Scham mehr empfinden, wenn sie auf ihre Grenzen achten. Bis sie alles sein dürfen, wonach sie sich fühlen – und nur noch dann still sind, wenn sie es wollen.
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Sexismus ist schon so lange Teil meines Lebens, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es sich anfühlen würde ohne ihn. Wie mein Wesen sich geformt hätte ohne stereotypisch “weibliche” Sozialisierung. Wer ich wäre, wenn mir nicht eingetrichtert worden wäre, mich immer um andere zu kümmern, meine Bedürfnisse hinten anzustellen, Dinge zu ertragen. Mir jeden Funken Respekt extra hart zu erkämpfen. Meine Grenzen überschreiten zu lassen, immer und immer wieder. Was meine Identität ausmachen würde. Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Menschen aufopfernde wie auch egoistische Seiten haben und in der weiblichen Sozialisierung werden vor allem erstere verstärkt – was ich ja nicht zwingend schlecht finde. In einer Welt, in der das Patriarchat regiert und in der es darauf ankommt, sich möglichst bissig durchzusetzen, um zu überleben, ist es allerdings offenkundig die schlechtere Wahl. Wann ich angefangen habe, das alles zu hinterfragen, weiß ich auch nicht mehr.
Dass sich die Welt für mich nicht fair anfühlte, war mir immer schon klar – warum, wusste ich nicht. Obwohl ich seit dem Kleinkindalter einen recht ausgeprägten Gerechtigkeitssinn habe, kam es mir lange Zeit nicht merkwürdig vor, dass ich aufgrund meines Geschlechts anders behandelt wurde. Dass mein gesamtes Geschlecht anders behandelt wurde. Dass Buben schon in der Kindheit dazu ermutigt wurden, Hobbys zu ergreifen, die laut und raumeinnehmend waren. Während Mädchen eher feinmotorische, leise Tätigkeiten zugewiesen bekamen oder auf andere Kinder aufpassen mussten – so wie ich. Dass es immer schon völlig normal schien, dass Buben “stören” durften, während Mädchen ruhig und höflich zu sein hatten. Woran ich mich zB. klar erinnern kann, ist, dass Buben zwar nicht immer Erwachsenengespräche unterbrechen durften, es aber vollkommen legitim war, wenn Buben in ein Mädchengespräch oder -spiel platzten und davon ausgingen, dass ihnen zugehört wurde. Verhaltensauffällige, teils aggressive Buben waren die Norm – verhielten sich Mädchen so, wurden sie als Abnormität gesehen, als “zickig” bezeichnet und mit “das ist nicht ladylike” ermahnt. Umgekehrt galten Buben, die sich nicht an Raufereien beteiligten und lieber in der Kinderküche spielten, als “Pussys” oder “Weicheier”. Und Weinen? Weinen war für beide Seiten schlimm. Den Buben wurde eingetrichtert, sie sollen “stark und tapfer” sein, der einzig erlaubte und gesellschaftlich gerechtfertigte Gefühlsausbruch war aufgrund von blanker Wut. Hm. Mädchen wurden sowieso relativ schnell als “weinerlich” und “hysterisch” eingestuft, sobald sie irgendeine Gefühlsregung zeigten, die über scheues Lächeln hinausging. Demnach habe ich gewisse Attribute und Verhaltensweisen schon immer als geschlechtsspezifisch kategorisiert und war über lange Zeit verdammt unsicher mit meinen Emotionen.
Ich hatte als Heranwachsende so viel Energie, so viele Gedanken, so viele Gefühle in mir, die ich einfach unterdrückte – aus Angst, aufzufallen. Hätte ich sie zugelassen, wäre ich aus meiner Rolle der verantwortungsbewussten, braven “jungen Dame” gekippt und das hätte offene Enttäuschung von den Erwachsenen in meinem Umfeld bedeutet. In diese Rolle war ich hineingeboren worden: Lieb zu anderen sein, aber die eigenen Grenzen nicht kennen. Hübsch sein, aber errötend-geschmeichelt reagieren müssen auf jeden oberflächlichen Kommentar. Klug sein, aber keine eigenen Gedanken vertreten dürfen. Eloquent sein, aber zu Dingen schweigen, die einen verletzen. Alles allein schaffen und alles für andere schaffen. Diese Rolle sollte ich über Jahre ausfüllen und das tat ich gut.
Nach einigen Jahren der Reflexion stehe ich heute an dem Punkt, wo ich mir ehrlich die Frage stelle – wer wäre ich, hätte Sexismus, hätten veraltete Rollenbilder, hätte meine “weibliche” Sozialisierung mich nicht derart geprägt? Zum Teil bin ich ja richtiggehend dankbar für diese Sichtweise auf die Welt – hat mir das alles doch einen rücksichtsvolleren, empathischeren Zugang gegenüber meinen Mitmenschen vermittelt. Es hat mich andererseits auch gebrochen, und das mehrmals. Also sitze ich heute da, wo ich bin, bin so, wie ich bin und stelle mir diese Frage. Wie wäre mein Leben ohne den allgegenwärtigen Sexismus darin? Ich vermag es mir nicht einmal vorzustellen.
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Auf eine Geschichte, die sich mir durch oftmaliges Erzählen hart in meine Erinnerung gebrannt hat, möchte ich unbedingt noch eingehen. Sie hat definitiv mit Sexismus zu tun. Ich war 17, mein damaliger Freund ebenfalls. Auf dem Land in Kärnten aufzuwachsen heißt auch, dass Dinge wie ein Faschingsball im Nachbarort einem Rave gleichen, und deswegen schmiss man sich ordentlich in Schale, was die Verkleidungen betraf. Wenn schon, denn schon.
Ich hatte beschlossen, mein “Kostüm” erstmals ein wenig körperbetont ausfallen zu lassen. Meine Essstörung hatte mich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht völlig in die Dysmorphie getrieben, also war durchaus noch Restselbstbewusstsein vorhanden. Ich hatte den ganzen Tag gekellnert, fuhr direkt zum Ball und zog mir noch im Auto eine weiße Bluse, einen Minirock sowie eine Netzstrumpfhose an, setzte mir eine Brille ohne Gläser auf und klemmte mir eine Mappe samt Korrekturstift unter den Arm. Mich zunächst sehr wohl und sexy fühlend erlebte ich beim Ball sogleich, wie ich auf einmal behandelt wurde, wenn ich mich, ich zitiere Anwesende “derart aufreizend” kleidete. Das alles war ein riesen Fehler – und nach fünf Minuten stierender Blicke fühlte ich mich billig as fuck.
Mein Freund holte nur einmal zischend Luft, als er mich sah, drehte sich dann zornesrot um und tat ab dem Zeitpunkt, als wäre ich Luft. Von irgendeiner Seite wurde mir Alkohol angeboten. Ich trank. Ein paar Stunden später war ich dicht und unzählige Male bedrängt, begrapscht oder anzüglich bewertet worden. Man hatte mir meinen Rock hochgeschoben, meine Oberschenkel berührt, meine Hüfte umfasst. Ich hatte zwei, dreimal etwas entgegnet, aber bald gemerkt, dass ich ja eindeutig selbst schuld war mit dem Outfit. Die Strickjacke, die mir eine Freundin geborgt hatte, half auch nur bedingt – Rock und Strumpfhose wirken wohl wie eine offene Einladung. Ich schämte mich. Lallend und taumelnd schüttelte ich eine Hand ab und begab ich mich wieder mal auf die Suche nach meinem Freund, der mich den gesamten Abend konsequent ignoriert und zwischendurch mit einem bitterbösen Blick bedacht hatte. Ich wusste, warum er es tat – ich war seine Freundin und offensichtlich darauf aus, von Fremden Anerkennung zu kriegen. Ich war selbst schuld, er MUSSTE mich bestrafen. Wer, wenn nicht er? Ich verstand ihn – ich war eine Blamage für ihn.
Irgendwann, gegen Mitternacht, hetzte er mit einem wutentbrannten “Ich fahr jetzt heim” an mir vorbei und ließ mich auf dem Ball stehen. Beim Versuch, ihn auf dem Parkplatz einzuholen, musste ich über eine Treppe laufen, auf der mir drei junge Männer im Schianzug entgegen kamen. Meine mittelschweren Koordinationsprobleme machten folgende Ereignisse nicht einfacher: Sie grinsten mich an und versperrten mir den Weg auf der Treppe. Einer griff nach mir, die anderen lachten, als ich versuchte, aufgrund meines Rauschs nicht umzukippen. Was sie sagten, verstand ich wegen der Sprache nicht, aber die Ernsthaftigkeit der Situation war mir schlagartig bewusst. Ich drängte mich mit Schwung vorbei, einer lachte, hielt mich fest. Er roch stark nach Alkohol, daran erinnere ich mich heute noch ganz genau. Und daran, wie bunt ihre Anzüge waren – so 90er Style. Ich schrie aus dem Nichts so laut ich konnte den Namen meines Freundes – das reichte, um mich herauswinden und losrennen zu können. Bis heute denke ich mir, die hatten es nicht hundertprozentig ernst gemeint. Auch wenn sie noch so alkoholisiert waren, hätten sie mich locker bändigen können – ich besaß in dem Zustand ca. die Wehrhaftigkeit einer Nacktschnecke.
Jedenfalls schaffte ich es die paar Meter weiter auf den Parkplatz, warf mich auf den Boden und rollte unter zwei großen Autos durch, bis ich dann regungslos verharrte und den Atem anhielt. Ich fühlte mich wie in einem Alptraum. Ihre Stimmen kamen noch einmal näher, sie lachten immerzu, suchten wohl kurz, aber halbherzig nach mir. Als sich ihre Schritte und das Grölen entfernten, merkte ich, dass mir die Tränen herunterliefen. Am stockdunklen Parkplatz suchte ich in der Eiseskälte mein Auto. Ich bin niemals wieder betrunken gefahren, aber in dem Moment war mir alles ziemlich egal. Ca. eine Viertelstunde später – an die Fahrt erinnere ich mich nicht – war ich bei meinem Freund daheim und erzählte ihm alles. In seinen Augen war es vorhersehbar gewesen, dass mir so etwas passieren musste, ich hatte ja geradezu darum gebettelt. “Ich weiß”, sagte ich immer wieder, unfähig, ihn anzusehen.
Um halb 2 Uhr nachts riefen wir die Polizei. Endlich konnte ich mich umziehen. Was danach folgte, war eines der entwürdigendsten Erlebnisse, die ich mein gesamtes Leben ertragen musste. Mein Freund stand mit steinerner Miene am Fenster und vermied jeglichen Blickkontakt, während die Polizei die Aussage aufnahm. Relativ am Anfang belehrte mich einer der beiden ca. 50-jährigen Polizisten, dass es sehr oft vorkäme, dass “junge Frauen so etwas erfinden, um Aufmerksamkeit zu bekommen”. Das saß ziemlich, ich verging sowieso gerade in Selbstvorwürfen. Meine Fassade brach irgendwann, ich begann unkontrolliert zu schluchzen, die beiden Polizisten zuckten hilflos mit den Schultern. Mein Outfit wurde inspiziert und als “Beweismaterial” gesichert. ”Das hattest du an? Naja…” Immerhin vergaßen sie wohl zu fragen, wie ich nach Hause gekommen war – bis heute hätte ich keine Antwort darauf gehabt, ich war offensichtlich schwerst betrunken und hätte nie und nimmer mit dem Auto fahren dürfen. Mein Freund umarmte mich kein einziges Mal in dieser Nacht. Am nächsten Tag musste ich noch einmal zur offiziellen Zeugenaussage aufs Revier.
Diesmal war immerhin eine Beamtin anwesend, die mir versicherte, sie glaube mir und sie wisse, dass so etwas häufig passiere. Ich mochte sie sofort und fühlte mich nach dem Gespräch mit ihr nicht mehr ganz so schäbig. Die Chance, die jungen Männer im Schianzug zu fassen, wurde als äußerst gering eingestuft, meine Kleidung sollte ich über ein Jahr nicht zurückbekommen. Wenn ich heute an diesen Abend zurückdenke, bin ich fast froh, dass die Details meiner emotionalen Lage – meiner Angst, meiner Demütigung, meines Selbsthasses – ein wenig in dem kapitalen Vollrausch versickert sind. Trotzdem kann ich mich heute daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Das würde heute alles etwas anders laufen.