Tina

Studierende, 22, tätig in der Sozialarbeit und bei einem Nachhaltigkeitsprojekt


Das gehorsame Ich gegen das trotzige Ich

Ich wurde als Mädchen erzogen mit allem Drum und Dran. Für meine Eltern und meine Familie bedeutete dies, dass sie mir rosa Kleider kauften, mich in den Ballettunterricht steckten und mir Puppen zum Spielen brachten. Und ich spielte gerne damit. Ich mochte den rosa Tüll, die Geschichten über Prinzessinnen und war geradezu davon besessen, mir meine eigene Hochzeit vorzustellen. Ich wusste ganz genau, wie mein Hochzeitskleid aussehen würde. Der Ehemann war nebensächlich. Ich nahm Ballettunterricht. Meine Mutter war entzückt, als ich das erste Mal in Tutu auf der Bühne stand, und Vater filmte stolz mit. Meine Freundinnen im Kindergarten und in der Volksschule beneideten mich um meine vielen Barbies und kamen nach dem Unterricht bei mir vorbei, um Mutter-Vater-Kind zu spielen, denn das war die einzige Familienkonstellation, die ich kannte. Und ich lernte, dass ich etwas richtig machte. Verhielt ich mich wie die Prinzessinnen aus meinen Bilderbüchern, war das gut so. Ich dachte nicht daran, etwas „Jungenhaftes“ zu machen, denn das gehörte sich nicht. Mir kam gar nicht in den Sinn, mir einen Lego-Monstertruck zu wünschen.

Als ich älter wurde, kam die Verwirrung. Plötzlich hieß es, all dieser Mädchenkram sei peinlich und um ein cooles Mädchen zu sein, musste man Sachen mögen, die Jungs mögen. So wurde man auch von Jungs gemocht und das war anscheinend sehr wichtig. Also wechselte ich meine eleganten Ballerinas gegen Sneakers aus und verabschiedete mich von Blümchenmustern.
Ich habe dies damals nicht infrage gestellt, doch heute wundere ich mich darüber. Warum wurde der typische Mädchenkram auf einmal als „kindisch“ und „uncool“ abgetan, doch der Jungskram war angesagt? Ab wann war es denn uncool geworden, ein Mädchen zu sein? Was bedeutet es überhaupt, ein Mädchen zu sein? Seit wann war meine Existenz als Mädchen davon abhängig, ob ich von Jungs gemocht wurde? Und wer stellte diese Regeln überhaupt auf? Anscheinend gab es da einen geheimen Codex, von dem ich nichts wusste. Doch meine Klassenkameraden hielten sich daran, als wäre er das Evangelium. Irgendwo versteckt auf dem Schulhof, hinter dem Klettergerüst, bildete sich ein Gericht an allwissenden Teenagern zusammen, die all jene verurteilten, die sich nicht ihren Gesetzen beugten. Die Strafe? Man wurde nicht auf die nächste Geburtstagsparty eingeladen und durfte der klasseninternen WhatsApp-Gruppe nicht beitreten.

Ich wurde älter und plötzlich waren Blümchenmuster wieder okay. Ich wurde als junge Frau erklärt und hatte mich nun noch mehr für Jungs zu interessieren. Mir schien, als wäre ich mein Leben lang nur dafür vorbereitet worden, dem anderen Geschlecht zu gefallen. Nun war es ganz wichtig, die eigene Weiblichkeit zu erforschen und hübsch auszusehen. Doch da machte ich nicht mehr mit. Jetzt reichte es mir. Ich gab meine bequemen Sneakers sicher nicht für Stöckelschuhe auf.

Rückblickend weiß ich nicht, was von all dem wirklich ICH war. Mochte ich den Ballettunterricht? Was war mit den Kleidern und den Barbies? War das wirklich ich oder die Version meiner selbst, die ich mir geschaffen habe, um das stolze Funkeln in den Augen meiner Eltern zu sehen? („Das ist meine kleine Prinzessin!“) Und als ich älter wurde, interessierte ich mich da wirklich für Star Wars und Horrorbücher, oder wollte ich bloß als „unmädchenhaft“ und damit „cool“ gelten? Wer bin ich und was würde von mir übrigbleiben, wenn ich aufhörte zu versuchen, anderen zu gefallen? Gäbe es mich dann überhaupt noch?

Von meiner Geburt an wurden Erwartungen an mich gestellt, basierend auf dem Geschlecht, das man mir in meine Geburtsurkunde eintrug. Man erwartete von mir, mich geschlechtskonform zu verhalten und sah dies als die Normalität an. Ich wurde gelehrt, was meine Rolle in der Gesellschaft war und wie ich mich zu verhalten hatte.

Geh gerade und aufrecht.
Lächle mehr.
Eine Dame überkreuzt die Beine beim Sitzen.
Frauen tragen keine schweren Dinge, dazu sind die Männer da.

Du kannst so gut kochen, du wirst deinen Ehemann damit glücklich machen.
Man bot mir nicht die Möglichkeit an, jemand oder etwas Anderes zu sein. Erst als sich mir die Welt der sozialen Medien öffnete, wurde mir bewusst, wie klein mein eigener Horizont war. Meine Erziehung war nicht streng, und ich hatte das Gefühl, man ließ mir viel Freiraum. Doch was bedeutet Freiraum, wenn einem nicht erklärt wird, was alles möglich ist? Ich wusste nicht, dass ich eine Frau sein kann, ohne mich so zu verhalten. Ich wusste nicht, dass ich weiblich sein kann, ohne mich selbst als Frau bezeichnen zu müssen. Das habe ich mir selbst beigebracht, weil es mein Umfeld nicht konnte. Und als ich anfing über die Grenzen meiner Welt hinauszublicken, wurde mir bewusst, wie seltsam es war, als Frau und nicht als Person behandelt zu werden. Überall, wo ich hinging, sahen die Leute eine junge Frau und keinen Menschen. Ich fühlte mich eingeschränkt.

Eines Tages wollte ich mir eine Winterjacke in einem Sportgeschäft kaufen und flanierte an den Regalen vorbei. Eine Verkäuferin kam auf mich zu und wies mich zurecht. Nicht, weil ich mitten im Sommer nach einer Winterjacke suchte, sondern weil ich mich in der Herrenabteilung befand. Sie zeigte mir ein paar Frauenmodelle, die mir alle nicht passten. Zu kurze Ärmel.
„Das war das letzte Modell“, sagte sie und zuckte die Achseln, nachdem ich den dunkelblauen Parka, ihre letzte Hoffnung, auch ablehnte. Ich bedankte mich, schlich mich in die Herrenabteilung, kaufte mir eine wunderschöne Jacke mit langen Ärmeln und fragte mich, seit wann sich Jacken als männlich oder weiblich identifizierten. Hauptsache, der Schnitt passte und meine Knöchel froren nicht.

Eines anderen Tages besuchte ich meine Oma und half ihr dabei, das Haus aufzuräumen. Wir stießen auf zwei hübsche Schachteln, in denen sich bestickte Servietten aus Baumwolle befanden.
„Ein Hochzeitsgeschenk von Verwandten“, erzählte mir Oma. Die eine Schachtel, jene mit den grünen Servietten mit Jagd-Motiv, gehörte Opa, die andere, zwei rosa Servietten mit Blumen darauf, gehörte Oma. Die Baumwolltücher hatten die perfekte Größe, um meine Querflöte damit zu putzen.
„Du kannst sie gerne haben“, sagte Oma und hielt mir die Box mit den rosa Servietten hin.
„Ich nehme die grünen“, entgegnete ich. „Grün ist meine Lieblingsfarbe.“
Oma blinzelte mich verwirrt an. „Die sind doch für Männer.“
Warum auch immer, doch meine Großmutter schien tatsächlich darüber besorgt, meine Querflöte könnte sich dadurch gestört fühlen, mit „männlichen“ Taschentüchern geputzt zu werden. Ich nahm schließlich beide Schachteln mit.

Mit 21 entschloss mich dazu, keine Kleider und Röcke mehr zu tragen, ob nun aus Überzeugung, Geschmack oder Trotz, das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht eine Mischung daraus. Ich entschied mich, mir meine Haare zu kürzen, mir meine Beine nicht mehr zu rasieren, bis sie richtig flauschig wurden, und nur noch grimmiger dreinzuschauen, wenn mir jemand nahelegte, ich solle doch „öfter lächeln“. Diese Entscheidungen waren schwer und jedes negative Kommentar ist nach wie vor ein Stich in die Magengrube, doch ich fühle mich wohl. Aus dem gehorsamen Ich wurde das trotzige Ich. Und ich bin mir sicher, das bleibt nicht das letzte Ich.


Kleider machen Frauen

Ich bin 186 cm groß. Das bringt viele Nachteile mit sich. Der durchschnittliche österreichische Mann ist laut Wikipedia 178,5 cm groß, die durchschnittliche österreichische Frau 166,9 cm. Das heißt, die Welt ist nicht auf meine Größe abgestimmt. Im Bus und der Straßenbahn brauche ich einen Sitz am Gang, in der Oper muss ich am Rand sitzen, Jacken sind mir an den Ärmeln stets zu kurz und Frauenschuhe in meiner Größe finde ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr.

„Warum bist du so groß?“ „Hat man dich zu viel gegossen?“ „Wie ist die Luft dort oben?“
Früher habe ich über diese Fragen höflich hinweggelächelt, heute rolle ich bloß mit den Augen. Man fällt auf, wenn man groß ist. Das mochte ich nie. Ich bin introvertiert und schüchtern. Ich will mich verstecken können, wenn ich meine Ruhe brauche. Meine Größe hindert mich daran.
Groß zu sein hat aber auch Vorteile. Ich komme als einzige im Haushalt an das hohe Küchenregal ran. Demnach bunkere ich dort meine Schokolade. Wenn ich schnell gehe, kommt mir niemand hinterher, weil meine Beine so lang sind.
Und mir wurde auf der Straße noch nie hinterhergerufen.
Durch meine Größe kann ich keine kurzen Kleider anziehen, ohne zu viel herzuzeigen. Stöckelschuhe fallen sowieso weg. Erstens weil es keine in meiner Größe gibt, zweitens weil ich eh schon viel größer als alle bin. Passende Jacken und Shirts finde ich nur in der Herrenabteilung. Mein Kleidungsstil ist gezwungenermaßen Unisex. Das stört mich nicht, denn ich fühle mich wohl in meiner Kleidung. Außerdem bin ich weder besonders männlich noch weiblich. In Kombination mit meiner Größe denke ich, werde ich respektiert. 

Ich hatte nie das Gefühl, dass ich durch mein Geschlecht benachteiligt wurde, nicht von meiner Familie, von Freund*innen oder Lehrpersonen.
Ein einziges Mal hörte ich einen Pfiff. Es war dunkel, ich war auf dem Weg in meine Schule, ich trug einen knielangen Rock und hatte meine Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden. Ich drehte mich um und auf der anderen Straßenseite stand ein Mann, der mir zunickte. Ich ging weiter. Einmal, da war ich fünfzehn und mit meiner Familie auf Urlaub, schlang ein Gewürzverkäufer seinen Arm um meine Taille und ließ sie dort liegen, während er mit meinem Vater und meiner Stiefmutter über seine Ware verhandelte. Ich war in einer Schockstarre. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Als wir dann endlich gingen, flüsterte mir der Mann ins Ohr: „Komm später wieder vorbei!“ Ich nickte und lächelte gezwungen. Natürlich kam ich später nicht wieder vorbei. Ich erzählte meinen Eltern davon. Sie belächelten die Situation und fanden, ich übertreibe, als ich sie darum bat, einen anderen Rückweg zu nehmen, um ja nicht ein zweites Mal an dem Laden vorbeizukommen.

Und das waren alle Erfahrungen, die ich mit fremden Männern zu verzeichnen habe, die mich sexuell belästigt haben. Ich weiß von Freundinnen, dass dies anscheinend ziemlich wenig ist. Auch dass ich, sieht man von meinen beiden Erlebnissen ab, noch nie gecatcalled wurde, ist eine Seltenheit für junge Frauen. Ich weiß nicht, ob ich darüber froh, empört oder wütend sein soll. Ich bin froh, weil mir dadurch viel Ärger erspart wurde. Ich bin empört über das Verhalten der Catcaller. Ich bin wütend darüber, wie viele Personen darunter leiden, dass sie sich nicht sicher fühlen. Und nicht sicher sind.

Man sagte mir einmal, wenn ich schnellen Schrittes durch die Grazer Innenstadt haste, gekleidet in eine Jeans, meine Waldviertler, meine braungrüne Herrenjacke und mit meinem strengen Gesichtsausdruck, wirke ich, als wäre ich auf dem Weg in die Schlacht. Wer würde sich da schon trauen, mir etwas Anzügliches hinterherzurufen? Dazu kommt, dass ich nicht dünn bin und drei Selbstverteidigungskurse absolviert habe. Es bräuchte schon mehrere Angreifer, um mich in die Knie zu zwingen. Und trotzdem fühle ich mich niemals ganz sicher. Wenn sich die Straßen am Abend leeren und die letzten Strahlen der Sonne am Horizont erlöschen, steigt mein Puls an. Ich sehe mich um und achte ganz genau darauf, wer mir da am Gehsteig entgegenkommt. Im Notfall wechsle ich die Seite. Wie schon gesagt, mir wurde noch nie etwas Obszönes hinterhergerufen, und doch trage ich diese Urangst in mir.

Ich muss nicht darüber nachdenken, wie ich mich kleide. Natürlich, jeder kennt das, man hat einfach nichts zum Anziehen und steht vor einem vollen Kleiderschrank. Das kenne ich auch. Doch ich meine, ich muss nicht darüber nachdenken, ob mich jemand aufgrund meiner Kleidung anders behandeln wird, als ich es will. Spätestens nachdem ich alle Röcke und Kleider aus meinem Schrank entfernt hatte, machte ich mir keine Gedanken mehr darüber, ob mein Äußeres die Blicke fremder Männer anziehen könnte. Ist es nicht grauenhaft, dass andere Personen sehr wohl darüber nachdenken müssen? Ist es nicht fürchterlich, dass man von Menschen anders behandelt wird, je nachdem wie man sich kleidet? Ist es nicht schrecklich, was für einen Einfluss ein Stück Stoff haben kann?

Kleider haben kein Geschlecht. Diese Ansicht vertrete ich. Es ist mir egal, ob eine Frau einen Frack trägt und ein Mann einen Rock, wenn sie sich wohl darin fühlen. Doch mit meiner Meinung bin ich in der Unterzahl. Für viele ist das Konzept eines Mannes im Kleid eine seltsame Vorstellung. Ich kann es diesen Menschen nicht verübeln, denn Tradition lässt sich nur schwer verändern. Was ich ihnen jedoch verüble ist, wenn sie in ihrer Engstirnigkeit glauben, sie hätten das Recht dazu, mit gehässigen Kommentaren um sich zu werfen. Was ich ihnen verüble ist, wenn sie ihren Kindern einbläuen, sie hätten sich nur auf diese eine Art und Weise zu kleiden. Was ich ihnen verüble ist, wenn sie andere Menschen für ihren Kleidungsstil anders behandeln.

Es nervt mich, dass mich meine Eltern und meine Omas stets dazu überredet haben, Kleider anzuziehen. Nicht, weil ich mich nicht hübsch darin fand. Nicht, weil sie mich hübsch darin fanden. Es nervt mich, dass sie der Meinung waren, so ein Kleid mache mich weiblicher. Es verleihe mir mehr weibliche Eigenschaften, an denen es mir anscheinend mangelte. Es nervt mich, dass ich mich anders verhielt, wenn ich ein Kleid trug. Ich saß eleganter da, ich bemühte mich um eine hübsche Frisur, ich versuchte öfter zu lächeln. Das sind alles Dinge, die von einer Frau erwartet werden. Es nervt mich, was für einen Einfluss ein Kleid auf mich hat. Nein, falsch. Nicht das Kleid hat den Einfluss, mein Umfeld hat es.

Und es nervt mich, dass ich zwanzig Zentimeter größer als die typische Österreicherin bin und nicht ungeschminkt sein oder „unweibliche“ Kleidung tragen muss, um in Ruhe gelassen zu werden.


Grenzen

Es gibt da diese Person in meinem Bekanntenkreis. Geben wir ihm den Kunstnamen Tevo. (Bitte um Verzeihung, falls jemand wirklich diesen Namen trägt!) Ich sag es gleich am Anfang: Ich will mit Tevo nichts zu tun haben, doch auf vielen Familienfeiern ist er mit dabei, also entkomme ich ihm nicht.

Tevo respektiert keine Grenzen. Ich habe schon oft gesagt, dass ich es nicht mag, wenn mich jemand ohne meine Erlaubnis berührt. Das gilt auch für Umarmungen. Jeder in der Familie weiß das von mir. Tevo auch. Es ist ihm nur egal. Wenn er mich begrüßt, halte ich ihm meine rechte Hand hin. Er ignoriert die Geste und drückt mich an sich. Dann gibt er mir noch einen Kuss auf die Wange. Er deutet den Kuss nicht an, nein, ich fühle jedes Mal seinen Speichel auf meiner Haut. Bei meinen männlichen Cousins tut er das nicht. Ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Er sucht mich auf der Familienfeier auf, stellt sich nah neben mich, redet leise mit mir und berührt mich dabei ständig irgendwo. Am Arm, an der Schulter… Ich weiche deutlich zurück. Er folgt meiner Bewegung und bleibt mir zu nahe. Er will nix von mir, um das klar zu stellen. Er ist fast dreimal so alt wie ich. In seinen Augen bin ich noch immer das kleine Mädchen, das zu ihm aufschaut und er ist eine Art „cooler“ Onkel.

Tevo respektiert keine Grenzen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, einzuwilligen, mit ihm Fahrrad fahren zu gehen. Es war ein nervenzerreibender Tag. Mein Fehler bezieht sich nicht bloß auf dieses eine fürchterliche Erlebnis, nein, denn Tevo will jetzt immer wieder mit mir Radfahren gehen. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, fragt er mich, wann ich Zeit habe. Manchmal ruft er mich deswegen sogar an.
Er macht sich einmal in meiner Gegenwart über Ballett lustig. Dann sagt er wieder, ich soll mit ihm Radfahren gehen. Ich sage ihm, ich will das nicht. Da er das Thema vorhin angesprochen hat, meine ich nun: „Wenn du mich zum Radfahren zwingst, ist das so, als würde ich dich zum Ballett zwingen.“
„Das ist was ganz anderes“, sagt er.
Ich frage, warum.
Er sagt: „Das ist doch nicht männlich.“
Ich frage nach, ob denn Radfahren männlich sei.
„Ja.“
„Und warum willst du dann, dass ich so etwas Männliches mache, wenn ich doch kein Mann bin?“
„Radfahren kann jeder.“
„Ballett auch.“
Wir drehen uns im Kreis. Er lässt trotzdem nicht locker. Egal, wie oft ich sage, ich will nicht Radfahren. Meinen Stiefbruder wollte er auch einmal zum Radfahren überreden. Der sagte nein, im selben Tonfall wie ich auch. Ihn lässt er in Ruhe.

Tevo respektiert keine Grenzen. Ich war mit der Familie in einem Gottesdienst – die Namen aller Verstorbenen des Vorjahres wurden aufgezählt. Der Name meines Opas wurde an achtzehnter Stelle genannt. Mir fiel auf: Eine Frau las alle Frauennamen vor, ein Mann alle Männernamen.
„Ich finde das komisch“, sagte ich nach dem Gottesdienst. „So eine unnötige Separierung.“
Mehr habe ich nicht gebraucht. Tevo richtete das Wort an mich. Warum ich mich den so aufrege? Was soll denn falsch daran sein? Wie auch immer, irgendwann kam er in seiner einseitigen Diskussion (er ließ mich nicht zu Wort kommen) auf: „Wenn ich auf der Straße eine hübsche Frau sehe, soll mir dann verboten werden, ihr ein Kompliment zu machen? Früher hat da niemand was gesagt. Wie soll ich mich den sonst verhalten, wenn ich nix mehr darf?“
„Du sollst Frauen als Person behandeln“, zwängte ich mich zurück in sein Gespräch. „Es ist wichtig, Gleichberechtigung…“
„Weißt du“, fiel er mir wieder ins Wort, „jetzt ist dir das mit Gleichberechtigung und so ja noch wichtig. Du wirst schon sehen, wenn du älter wirst, hast du mehr Überblick. Als ich so jung war wie du, dachte ich auch, ich muss mich gegen die Älteren auflehnen. Aber im Alter sieht man, dass das alles nicht so wichtig ist.“
Ich wurde als kleines, unerfahrenes Mädel abgestempelt, das keine Ahnung von der Welt hat. Ich habe nichts mehr darauf gesagt. Davor habe ich mir immer Mühe gegeben, Argumente gegen seine Aussagen zu finden, doch in diesem Moment wurde mir bewusst, dass es vollkommen egal war, was ich zu ihm sagte. Denn meine Meinung ist für Tevo nicht ernst zu nehmen.

Tevo respektiert keine Grenzen. Ich war noch nie in einer Beziehung. Ich muss mich dafür nicht rechtfertigen und ich will es auch nicht. Es ist für mich nicht wichtig. Für Tevo anscheinend schon. Er findet es nämlich seltsam, dass ich kein Interesse an Männern habe. Ich bin schließlich eine junge Frau, ich muss doch ständig an Jungs denken, richtig?
Wer ist denn gerade der Mann in deinem Leben?
Was magst du so an Männern?
Magst du es, wenn ein Mann einen Bart trägt?
Welche Haarfarbe an Männern findest du scharf?
Warum erzählst du mir nie von deinen Erfahrungen mit Männern?
Tevo lässt einfach nicht locker, egal wie oft ich ihm sage, dass ich nicht an diesem Thema interessiert bin. Und an „jungen scharfen Männern“ schon gar nicht. Generell an Männern. Doch wenn ich das Tevo sage, endet das gut möglich in einer super nervigen und viel zu persönlichen Diskussion. Kein Bock darauf. Also lasse ich die Fragerei über mich ergehen. Ich bin hilflos, denn er hört nicht auf mich.

Tevo respektiert keine Grenzen. Seine Frau ist eine wahnsinnig liebevolle und lustige Person. Sie spricht nicht sehr gut deutsch. Das nutzt er aus. Eines Tages saßen wir mit der Familie in einem Gasthof. Tevo saß zwei Plätze entfernt von mir. Die Kellnerin kam und nahm die Bestellungen auf. Tevo sagt plötzlich etwas sehr Unangenehmes zu der Kellnerin. Dafür verwendet er seinen schrecklichsten Dialekt. Er spricht sonst hochdeutsch und ich weiß, dass er nur so genuschelt hat, damit seine Frau nicht versteht, dass er gerade mit der Kellnerin flirtet.
An einem anderen Tag, seine Frau war nicht dabei, sitzen wir um einen Tisch in Omas Garten. Er erzählt von der Geschichte, wie er seine Frau kennengelernt hat. Er verwendet viel zu oft das Wort „geil“ und sieht mich dabei an. Mir ist diese Situation unangenehm. Im Nachhinein erzählt mir meine Mama, dass er seine zweite Frau auch wie seine dritte kennengelernt hat. Nur dass er damals mit einem Arbeitskollegen ins Ausland geflogen ist. Mama erzählt mir, dass dieser Arbeitskollege Minderjährige dafür bezahlt hat, dass sie zu ihm in das Hotelzimmer kommen. Tevo ist mit diesem Arbeitskollegen noch immer in Kontakt.

Tevo respektiert keine Grenzen. Wir sitzen beim Kaffeekränzchen im Wohnzimmer. Tevo kommt zu spät und setzt sich an den Tisch. Er wird gefragt, ob er Tee oder Kaffee will. Tee steht schon auf dem Tisch, Kaffee muss erst gemacht werden. Er sagt, er will Kaffee und setzt sich hin. Er sieht meine Stiefmutter und mich erwartungsvoll an. Meine Stiefmutter sagt ihm, wenn er als einziger Kaffee will, soll er doch bitte in die Küche gehen und die Kaffeemaschine selbst bedienen. Er ächzt, hievt sich gespielt schwermütig hoch, schleppt sich in die Küche und man hört von ihm nur noch: „So, wie funktioniert das jetzt? Auf welchen Knopf muss ich drücken?“

Schließlich schafft es Tevo, den richtigen Knopf zu drücken und trinkt seinen Kaffee. Seine Tasse ist leer, er will noch einen Kaffee. Er stellt die Tasse vor sich und sieht mich und meine Stiefmutter wieder erwartungsvoll an. Ich will anmerken, dass weder ich noch meine Stiefmutter in diesem Haus wohnen, wir also genauso Gäste sind, wie er. Meine Oma tut sich sehr schwer dabei, aufzustehen. Ihre Knie schmerzen, sie steht sehr unsicher auf den Beinen. Weil weder ich noch meine Stiefmutter auf die unausgesprochene Aufforderung Tevos reagieren, hievt sich Oma mit schmerzerfülltem Gesicht hoch, um Tevo seinen Kaffee zu bringen. Tevo sagt nicht einmal danke. Für ihn ist das selbstverständlich. Meine Stiefmutter und ich sehen ihn vorwurfsvoll an und fordern ihn dazu auf, sich seinen Kaffee gefälligst selbst zu machen. Er bekommt anscheinend ein schlechtes Gewissen und folgt meiner Oma in die Küche nach. Von selbst wäre er nicht darauf gekommen. Später helfe ich meiner Oma dabei, das Geschirr einzusammeln und in den Geschirrspüler zu räumen. Tevos Tasse nehme ich nicht mit, die lasse ich vor ihm am Tisch stehen.

Tevo respektiert keine Grenzen. Vielleicht sieht er sie auch einfach nicht.

Liebe Leser, ich habe euch angelogen. Es gibt nämlich keinen Tevo. Es gibt viele. Diese Geschichten handeln nicht alle von derselben Person. Aber aus demselben Familienkreis. Ich habe mit gleich mehreren Tevos in meinem Leben zu kämpfen.

(Anmerkung: Die Tevos in meinem Leben sind allesamt männlich, daher habe ich als Pronomen er/ihn verwendet, doch ich denke, Tevos gibt es bei jedem Geschlecht.)