Lilli

36, zwei Kinder, 16 und 4 Jahre, verheiratet mit Georg, arbeitet im Online Marketing


Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein, als meine Großeltern mit mir, meinen Geschwistern und meinen Cousins einen Waldspaziergang machten. Mein Opa ging mit einer Gruppe von Kindern weiter nach hinten, ins Gestrüpp. Ich wollte ihnen folgen, doch mein Opa drehte sich um und sagte zur mir: „Nein, Mädchen brauchen wir hier nicht! Geh du zurück zu den Frauen!“ Ich war so verwirrt und verletzt, dass ich mir diesen Satz bis heute gemerkt habe und bis heute schmerzt er, wenn ich daran denke. Damals drehte ich mich um und ging. Ging brav zu den Frauen. Aber nicht nur mein Opa drehte sich zu mir um und schloss mich aus, sondern auch meine kleine Schwerster war unter den „Männern“. Sie funkelte mich feindselig und böse an, sie gehörte ja zu ihnen, zu den „Männern“. Ich kann mich erinnern, dass ich das damals auch nicht ungewöhnlich fand. Meine Schwester wollte in der Volksschulzeit immer ein Bub sein und war mächtig stolz, wenn Passanten sie mit ihren kurzen Haaren und der burschikosen Kleidung für einen Buben hielten. Ich kann mich an ihre vor Stolz geblähte Brust erinnern, wenn jemand fragte, ob „der Bub da drüben“ auch was wolle.

Ich hingegen war immer das „Mädchen-Mädchen“. Ich wurde absolut niemals für einen Buben gehalten. Ich trug Kleider, ich war ordentlich, ich war sauber, ich war höflich, ich war ein Mädchen. „Du siehst sogar in einer Jogginghose elegant aus“, sagte meine Mutter immer über mich und sie hatte recht. Warum, weiß ich allerdings bis heute nicht.
Heute erinnert äußerlich nichts mehr von meiner schönen, stolzen, rothaarigen Schwester an einen Mann. Der Rest allerdings schon. Als Unternehmerin, die 24/7 arbeitet, hat sie keine Zeit für Kinder. Sie verdient ziemlich genau zehnmal so viel ich. Die Luft ist dort, wo sie ist, ziemlich dünn. Das macht ihr nichts, sie hat die Puste. „Ich hab Eier“, sagt sie immer und beweist das jeden Tag.
Ich hab Kinder. Früh damit angefangen und noch immer ziemlich beschäftigt mit ihnen. Keine Karriere, sondern einen Job.
Vielleicht kommt das der einen oder anderen traurig vor, wenn sie es liest. Ist es aber nicht. Ich bin weder neidisch auf meine Schwester noch unglücklich mit meinem Leben. Ich weiß nicht genau, warum der „Bub“ von damals heute der „Mann“ geworden ist und das „Mädchen“ die „Frau“. Jedenfalls sind wir beide grundverschieden, meine Schwester ist eine grandiose Selbstdarstellerin, großartige Netzwerkerin und mutige Kämpferin. Ich bin ebenfalls mutig und grandios, allerdings immer in der zweiten Reihe und das ist nun mal die Reihe, die „den Frauen“ zugeordnet wird.
Ich war mein halbes Leben lang wütend auf mich, weil ich nicht gerne in der ersten Reihe stehe und nicht der Mittelpunkt jeder Party bin. Erst in den letzten Jahren habe ich begonnen, mein besonnenes Wesen, meine ruhige Art und sture Zielstrebigkeit wertzuschätzen. Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich das nicht schon viel früher gemacht habe, nur weil viele meiner positiven Eigenschaften eher weiblich konnotiert sind und daher „weniger wert“ sind. Ich liebe meine Schwester für ihre Originalität und ihren Charme, aber das bin nicht ich.
Sehr viele Jahre nach dem Erlebnis im Wald hatte ich die Gelegenheit, wirklich ausführlich mit meinem Opa zu reden. Über seine Erfahrungen als Mann und Vater. Er erzählte mir, dass er als 1930 geborener Mann so gerne mit Puppen gespielt hätte und überhaupt Kinder so gerne mochte. Manchmal holte er sich aus dem Wald ein totes Eichhörnchen, mit dem er spielte, bis es stank. Mich rührten die weichen Augen meines Großvaters, als er das erzählte, zu Tränen und ich spürte, dass er aber nicht einmal litt, weil er nicht durfte. Es war normal, er durfte nicht, er war ja ein Mann.
Für meinen Opa und mich wünsche ich mir, dass Menschen ihren Wert unabhängig von Geschlechterrollen sehen können und allen echten Männern wie meiner Schwester wünsche ich, dass sie ihre Männlichkeit feiern und genießen.


Mental Load und Streit
Die Wäsche? Du fragst mich, ob du die Wäsche aufhängen sollst? Nein, sollst du nicht, hänge ich lieber selbst auf! Die Wäsche aufzuhängen ist nämlich nicht DIE ARBEIT. DIE ARBEIT ist daran zu denken, wie voll der Schmutzwäschekorb ist, sich zu überlegen, wann man denn die Waschmaschine einschalten kann, damit sie dann auch gleich wieder ausgeräumt werden kann. Waschmittel kaufen, Sieb reinigen, Wäsche sortieren. Das ist DIE ARBEIT!
Und du willst die Wäsche aufhängen und ich soll mich gleich bedanken, DANKE, wie schön, wir machen alle gemeinsam, mal du, mal ich. Danke, dass du mit deinen starken Armen die schweren Wäschestücke aus dem Korb hebst und diese so fein säuberlich aufhängst! Danke.
Aber du hängst sie nicht mal fein säuberlich auf. Sie hängen falsch, die schweren Stücke gehören über zwei Rippen gehängt, sonst werden sie nie trocken. Und gerade, nicht so schief, sonst muss man alles bügeln. Dann alles nochmal: Wäsche wieder abhängen, alles gerade und ordentlich aufhängen, dich loben und dankbar sein!

Fehlersuche
Ich organisiere und übernehme den Großteil der Hausarbeit und der Care-Tätigkeiten, arbeite nur 30 Stunden. Du arbeitest Vollzeit und zahlst alle unsere Fixkosten. Ist das strukturell bedingt oder nur individuell, weil du zufällig lieber arbeitest und ich lieber zuhause bin?
Du verdienst mehr. Klar, auch wenn wir fast dieselbe Ausbildung haben, hast du schon immer Vollzeit gearbeitet. Ich hatte schon ein Kind aus erster Ehe und habe fast immer Teilzeit gearbeitet. Ob mein Sohn bei mir oder bei seinem Vater bleibt, stand nie zur Debatte. Strukturell oder individuell, weil ich meinen Sohn so gerne bei mir habe?
Weil ich schon teilzeitbeschäftigt war, habe ich auch unsere Tochter überwiegend betreut. Habe viel Zeit mit ihr verbracht, die Hausarbeit übernommen. Nebenbei gearbeitet. So wie die meisten Mütter.
Und jetzt? Wer denkt an die Kindergartenjause? Wer hat eine Kreditkarte und wer nicht? Wer schneidet der Tochter die Nägel? Welches Konto hat den größeren Überziehungsrahmen? Strukturell oder individuell?

Mental Load und Mental Load 2.0
Warum gehe ich in das Zimmer meines 16-jährigen Sohnes und nehme dort die Schmutzwäsche mit? Das soll ich nicht, er gewöhnt sich an den Service, lernt, dass er weder Verantwortung noch Aufgaben übernehmen muss. Ich gebe die Struktur weiter, bringe ihm bei, dass Frauen die Hausarbeit machen und Männer keinen Gedanken darauf verschwenden müssen. Mental Load wird ein nichtssagender, leerer Begriff in seiner Zukunft.

Zukunftsperspektive
Wir kommen gut miteinander aus, begegnen einander auf Augenhöhe und haben eine schöne Beziehung zueinander. Wir beide finden, dass Frauen und Männer gleichwertig sind und die gleichen Rechte und Chancen haben müssen. Ganz klar. Warum gelingt es uns trotzdem nicht, die Erwerbsarbeit, Care-Tätigkeiten und Hausarbeit gleichmäßig zu verteilen? Die gleichen Rechte und Chancen zu leben?