Philippos

46, Manager im IT-Bereich, in einer Beziehung mit Sarah S., keine Kinder


„Kulturbedingte Aspekte des Sexismus, von Rollenbildern und damit verbundener Erwartungen und was eine Schaufel und ein Eichhörnchen damit zu tun haben.“

Es war ein schöner Frühlingstag und ich half als 16-jähriger Jüngling, wie so oft, meinem Vater im Garten. Wir standen am Parkplatz, nahe dem Wohnhaus unter der imposanten Linde, und verrichteten in ihrem Schatten gerade eine Arbeit, als ein offensichtlich junges Eichhörnchen über den Parkplatz auf uns zu kam. Merkwürdig zutraulich war es und die erste Freude über den Anblick des Eichhörnchens wich bei mir und meinem Vater schnell Argwohn und Skepsis. Die anfängliche Zutraulichkeit des kleinen Eichhörnchens schlug alsbald in Aufdringlichkeit um und es gab scheinbar überhaupt keine Berührungsängste mit uns Menschen. Nachdem wir auf verschiedene Arten versucht hatten das Eichhörnchen von uns wegzubekommen, es aber immer wieder näherkam und sogar versuchte, an unseren Beinen hochzuklettern, wurde meinem Vater und mir langsam mulmig zumute. Das Erste, das uns als Erklärung für das sonderbare Verhalten des Eichhörnchens in den Sinn kam, war – wohl auch, weil das damals in den 1980ern als Thema noch sehr präsent war – die Tollwut.
Unsere Versuche es zu vertreiben wurden immer verzweifelter und vehementer, und es muss ein merkwürdiger Anblick gewesen sein, wie ein junger Bursche und ein Mann auf einem Parkplatz rufend und wild gestikulierend herumliefen, um ein Eichhörnchen zu verjagen. Egal wie laut wir waren, egal was wir taten, nichts schien zu helfen, das Tier lief immer wieder auf uns zu und versuchte an uns hochzuklettern. Das Geschehen auf dem Parkplatz wurde immer hektischer, wir hatten jetzt auch Angst, dass das Eichhörnchen uns beißen könnte.
Nach einiger Zeit erfolgloser Versuche es zu vertreiben packte also mein Vater das kleine Eichhörnchen mit den in Handschuhen steckenden Händen und hielt es fest, während er mir zurief, ich solle ihm die Schaufel geben. Mir war noch nicht klar, wohin das führen sollte und reichte sie ihm. Dann ging alles blitzschnell. Mein Vater drückte das Eichhörnchen mit der einen Hand auf den Boden, nahm mir mit der anderen die Schaufel ab und trennte mit einem schnellen Schlag dem kleinen Tier den Kopf ab. Die Hektik wich auf einmal kompletter Ruhe.
Mit gesenktem Kopf und hörbar traurig sagte mein Vater: „Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss.“ Für ihn war das, was er getan hatte, sicherlich auch kein leichtes Unterfangen, da mein Vater alle Tiere liebt und ihnen freiwillig nie etwas Böses antun würde.
Lange Zeit war für mich dieses Geschehnis der Inbegriff von Stärke und Männlichkeit und ich erzählte sie gerne, um meinen Standpunkt klarzumachen, dass man/n manchmal auch Dinge tun müsse, die einem schwerfallen und es Situationen gibt, in denen man eben „seinen Mann stehen“ muss. Was ein Mann wohl noch so alles tun muss in seinem Leben?

Erst Jahre später erfuhr ich, dass junge Eichhörnchen, die aus dem Nest gefallen sind, auf der Suche nach Schutz auch die Nähe von Menschen suchen. Neben der Tollwut (das glaube ich heute ohnehin nicht mehr) wäre das auch eine Erklärung für das Verhalten des Eichhörnchens gewesen und hätten wir das gewusst, wäre die ganze Geschichte anders verlaufen.


„Wann ist ein Mann ein Mann? Oder: was muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss, um ein Mann zu sein? Gedankensplitter einer Rollenfindung.“

Erster Splitter
Ich halte einer Frau, die mir entgegenkommt, die Türe auf und muss mich, während sie durch die Türe tritt, belehren lassen, dass sie das auch selbst schaffe und ob ich ihr das nicht zutrauen würde. An diese Begebenheit denke ich zurück, während ich einem Arbeitskollegen die Türe aufhalte.

Zweiter Splitter
Ich will Sex, sie auch. Ich bin passiv, sie ist genervt. Das „Nehmen“, von mir aus auch das „Aktiv sein“, oder das Einfordern, die Initiative ergreifen, liegt in dieser Sache, beim Sex, nicht in meiner Natur. Ganz im Gegensatz zu dem, was mein Aussehen und meine Ausstrahlung scheinbar vermuten lassen. Das hat schon bei mehreren Partnerinnen Irritationen ausgelöst und auch – erstaunlicher Weise – Spekulationen über meine tatsächliche sexuelle Orientierung angestoßen.

Dritter Splitter
Ich bin bei meinen Eltern. Sie haben, wie so oft, Besuch. Die Gesellschaft teilt sich zu Anfang wie fast immer, bevor man sich im Esszimmer zum Essen trifft, in eine Runde aus Frauen, die in der Küche stehen, und in eine Runde Männer, die am Tisch im Wohnzimmer Platz genommen haben. Die Frauen in der Küche tratschen, reden über das Kochen im Allgemeinen und das Gekochte im Speziellen; über Gartendesign und Deko. Auch über die Leben und Probleme ihrer Kinder reden sie, über Sorgen und Krankheiten, über Hoffnungen und glückliche Momente. Die Männer im Wohnzimmer reden über Autos, Navigationsgeräte, Heizungen, Geld, sie reden über die Welt und die Politik. Ich stehe fast immer bei den Frauen in der Küche.

Vierter Splitter
Ich bin im Garten und schneide konzentriert Pflanzen in Form. Ein kleiner Schnitt hier, ein kleiner Schnitt da, ein Schritt zurück, die Form bewerten, dann wieder ran an die Pflanze und weiter schneiden. Behutsam, jeder Schnitt soll sitzen, die Pflanze aus allen Richtungen „ein Gesicht haben“. Mein Bruder und mein Vater stehen etwas entfernt und machen sich über mich lustig; weil das keine Männerarbeit ist.

Fünfter Splitter
Ich stehe nachts vor einem Lokal in einer Menschenschlange und warte darauf eingelassen zu werden, vor mir in der Schlange steht eine Frau. Ohne sich dabei umzudrehen, greift sie nach hinten und mir gezielt in den Schritt. Sie wollte „nur mal schauen, wie ich so bestückt bin“. Wie soll ich damit umgehen?

Sechster Splitter
Ich übernehme eine Führungsposition. Mit Bestimmtheit will ich das Team führen. Orientierung geben. Ich höre den Mitarbeitern zu, ich versuche zu verstehen wo die Probleme liegen. Ich habe ein offenes Ohr. Ich mache Ansagen, ich treffe Entscheidungen, ich trage die Konsequenzen. Ich lenke ein, aber nicht in allen Punkten, nur keine Befindlichkeiten. Ich mache unmissverständlich klar, was meine Erwartungen und Ziele sind, Argumente zählen immer, aber es ist auch klar, wer im Zweifelsfall das Sagen hat.


„Respekt“

Im Gegensatz zu meinem Vater verbinden mich mit meiner Mutter wenige bis keine abgegrenzten Anekdoten, sondern vielmehr gelebte Lebensweisheiten, die ich von ihr mitbekommen habe; ein ganzes Leben mit Vorbildwirkung mit einer grundlegenden Haltung. Zwei Begebenheiten fallen mir spontan und immer wieder ein, die ich kurz erwähnen möchte. Das eine Mal, als meine Mutter mich und mein Lieblingsspielzeug, eine Puppe, vor meinem Vater verteidigte, der es gar nicht gut fand, dass ich so gerne damit spielte und ein anderes Mal, als es zu der Diskussion kam, wie es wäre, wenn mein Neffe – zu dieser Zeit noch ein Kleinkind – schwul sein sollte. Für meinen Vater und meinen Bruder eigentlich unvorstellbar, aber auf jeden Fall ein Makel, meine Mutter meinte es täte ihr leid für ihn. Auf die erstaunte Nachfrage wie sie das meinte, sagte sie, dass es ihr für ihn leid täte, was er alles ertragen und durchstehen müsste in unserer Gesellschaft, bis er seinen Platz gefunden hätte – und ein Umfeld, das ihn mit Respekt behandle.

Egal, worum es sich handelt, ob um ein Leben – eines Eichhörnchens oder eines anderen Lebewesens – und dem allerletzten Ausweg des Tötens, das niemals, egal um welches Lebewesen es sich handelt, leichtfertig sein kann, um eine aufmerksame Geste des Türaufhaltens, ungesehen des Geschlechts, um das Anerkennen von unterschiedlichen Zugängen, auch in den intimsten Momenten des Lebens, das Raum geben von Leidenschaften und Vorlieben, das Anerkennen von Intimsphäre oder auch das Abstecken von Grenzen. Es geht für mich grundlegend immer um eines: Respekt.

Dieser gemeinsame Nenner für viele Aspekte des menschlichen Handelns und Zusammenlebens hat sich für mich erst in meinen Dreißigern offenbart. Sobald ich Lebewesen und auch Dingen Respekt im weitesten Sinne (das umfasst auch Konzepte wie Pietät oder Toleranz), also Wertschätzung entgegenbringe, ergeben sich viele Dinge fast wie von selbst und andere sind beinahe ausgeschlossen. Wo Respekt herrscht, kann es keine abwertende Haltung geben. Wo Respekt herrscht, kann es zwar Ungleichbehandlung geben, aber sicherlich keine Unfairness. Wo Respekt herrscht, hat jeder seinen Raum, in dem er sich entfalten und verwirklichen kann.