Danas Geschichte
Kapitel 1 – Unsere Straße
Wir haben kein Klopapier gehortet. Echt nicht. Mainstream mag ich nicht, auch nicht bei Klopapier. Obwohl mir auch das Wort Mainstream zuwider ist, aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Also es ist Montag, seit heute ist Lockdown und wir haben normal viel Klopapier zuhause. In unserer Straße kenne ich einige Nachbarn vom Sehen, wir grüßen uns meist nur flüchtig. Es wird Dienstag, wir sind jetzt schon seit einer Woche zuhause. Ich war einkaufen, das Klopapier war aus. Und dann treffe ich an der Ecke vor unserem Haus eine alte Bekannte, wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Sie ist letzte Woche in unsere Straße gezogen. Ihr Umzug war eine kleine Katastrophe. Wir plaudern kurz, dafür recht laut, wegen des Abstands, an der Straßenecke. Wir beide umklammern dabei leicht nervös und etwas umständlich unsere Klopapier-Einkäufe, versuchen sie erfolglos hinter unseren Körpern zu verstecken. Zum Schluss erklären wir uns gegenseitig, dass das heimische Klopapier wirklich ehrlich aufgebraucht war, und machen uns dann etwas beschämt in die entgegengesetzte Richtung auf den Heimweg.
Kapitel 2 – Kurzarbeit 1.0
Ab heute Maske, zur Begrüßung nicken, Berührung mit Handschuhen. Und dann Kurzarbeit! Quasi Urlaub!? Aber wohin? Urlaub im Wohnzimmer, Urlaub neben dem Geschirrspüler, neben der Waschmaschine, mit Staubsauger in der Hand. Staub von 13 Jahren auf den Blockflötennoten – ich hätte sie auch einfach wegwerfen können. Geil, Urlaub!? Den letzten haben wir auf der Piste verbracht, aber ich traue es mich keinem zu sagen. War ja schon ein bisschen „Stay the fuck home“. Zu dritt alleine in der Sauna, zu dritt alleine im Hotel, zu dritt alleine am Frühstücksbuffet und jetzt alleine daheim. Blockflötennoten ordnen, laufen, Online-Yoga, Bananenbrot backen – mag ich eigentlich alles nicht, aber mir ist mittlerweile langweilig genug. Wann geht es weiter? Urlaub!? Urlaub hat doch etwas mit Genuss zu tun. Das Rattern der Waschmaschine verrät es, schreit es laut raus – es ist Kurzarbeit, doch kein Urlaub. Und dann kommt die erlösende Nachricht – nächste Woche wieder ein bisschen neue Normalität. Heißt das jetzt Bananenbrot 6.0, Marathonfitness ohne Marathon, Yoga im Schlafanzug mit Kaffeetasse vor mir und Ordner voll ungebrauchtem Papier? Ich mag das nicht. Ich möchte im Supermarkt mal wieder jemanden anlächeln, neue Gesichter sehen, bei einem Konzert mich durch die Menschenmenge drängen. Ich will Kontakt haben, echten, physischen. Ich freue mich ehrlich über den LKW-Fahrer, der mir beim Laufen „Geile Beine“ nachschreit. Früher hätte mich das geärgert, jetzt fühle ich mich wahrgenommen. Und dann treffe ich eine Freundin zum Skype-Bier und würde eigentlich lieber noch ein Bananenbrot backen.
Kapitel 3 – Euphorie
Ich bin sehr organisiert. Das mag ich an mir. In unserer Beziehung ist das aber immer wieder ein Streitpunkt. Weil ich alles planen muss. Und deshalb plane ich heuer nicht alle Konzertbesuche im Vorhinein. Man tut halt, was man kann. Ich mag Oehl, die Band, sonst bin ich eher der Butter-Typ. Also ich mag die so gerne, dass Songs von ihnen im Dezember 2020 laut Spotify meine Lieblingslieder Nr. 1 bis Nr. 3 werden. Und sie spielen in zwei Wochen Anfang März 2020 im Orpheum. Ausverkauft! Das habe ich also vom Auf-mich-Zukommen-lassen. Und dann verkauft jemand zwei Karten auf Facebook und ich ergattere sie – Erfolgs- und Freudentanz vorprogrammiert. Zwei Stunden später: Alle Veranstaltungen sind abgesagt. Nichts zu machen. Aber es waren zwei schöne Stunden voller Vorfreude. Jetzt warte ich zwischen Geschirrspüler, Waschmaschine und Staubsauger auf das Konzert am Ende des Sommers. Und es findet statt! Es kann wieder etwas stattfinden. Ich wäre auch zu einem Schlager-Konzert gegangen, ich wäre einfach überall hin gegangen, nur des Gehens wegen! Aber es ist Oehl und das ist großartig. Wir sitzen, es ist anders, aber schön. Und die Band spielt das erste Lied. Und das Publikum klatscht und klatscht weiter und Euphorie füllt den Saal, füllt jede Person im Raum und verebbt nicht. Es wird ein wildes Klatschen, ein energisches Klatschen. Wir klatschen die Einsamkeit, die Langeweile, den Frust, die Verzweiflung, einfach den ganzen Scheiß klatschen wir weg. Und kurz vorm Aufspringen in völliger Ekstase bleiben wir sitzen.
Kapitel 4 – Hamburg
Meine Winterjacke hängt seit Herbst 2019 an der Garderobe in Altona. Ich wollte sie mir nicht nachschicken lassen, ich komme bald wieder. Wir haben uns 2009 in Indien kennengelernt. Antonia ist toll. Ich würde gerne in ihrer Nähe wohnen, würde sie gerne viel öfter hören und sehen. Weil wir das aber bis jetzt nicht geschafft haben, besuchen wir uns zweimal im Jahr. Mit ihren Zwillingen ist das jetzt schwieriger geworden, also habe ich im Winter einen Flug nach Hamburg für Anfang April gebucht. Und jetzt ist Lockdown und ich hoffe noch, dass das in sieben Wochen vorbei sein wird und wir gemeinsam einen Kinderwagen die Elbe entlang schieben und am Abend Bier trinken, über unsere Jobs und Beziehungen philosophieren und wieder miteinander lachen. Und es wird Ende März, ich sitze daheim und lache nicht. Und es wird Ende April, ich sitze nicht im Flieger. Zu meinem Geburtstag habe ich sie eingeladen, eher pro forma. Mit zwei Kleinkindern im Schlepptau fliegen und feiern? Ich werde am Ende des Sommers nach Hamburg kommen – versprochen. Aber die Grenzen gehen wieder zu. Ich habe es nicht kommen sehen, wollte es nicht kommen sehen. Und jetzt ist es Herbst und es wird kalt. Meine Jacke hängt noch immer in Altona. Ich sitze wieder daheim.
03.02.2021: Zu Mittag telefonieren wir kurz. Ich stehe am Parkplatz hinter dem geschlossenen Einkaufszentrum und krame meinen Laptop aus dem Rucksack. Ich bin aufgeregt, ich lese ihr die Geschichte über Hamburg, ihre Kinder, meine Jacke und unsere Freundschaft vor. Sie weint, ich dann auch. Ich vermisse sie sehr.
Kapitel 5 – Geburtstag
Ich mag Geburtstage nicht, vor allem meine eigenen. Ich erinnere mich an meinen 20sten. Mein damaliger Freund hat einen Tag vor meinem Geburtstag mit mir Schluss gemacht. Am Freudentag bin ich also total verheult nach Kärnten zu meinen Eltern gefahren und habe mit ihnen, zu dritt ins Zweiersofa gequetscht, bis halb zehn „Deutschland sucht den Superstar“ im Fernsehen angesehen. Dann bin ich schlafen gegangen. Es war nicht mein miesester Geburtstag. Also sagen wir mal, die Ansprüche an die Feierlichkeiten zu meinem 30er sind eher bescheiden. Eigentlich will ich mit meinem Freund wegfahren, mit dem alten VW-Bus raus aus Österreich, gar nicht die Chance auf eine langweilige oder unangenehm seltsame Feier aufkommen lassen. Aber nach dem ganzen Abstand-Halten, nach der ganzen Isolation, bin ich bis zum Sommer so ausgehungert nach Kontakten, dass ich mich während einer Autofahrt, bei der ich lautstark Indie-Songs mitgröle und mich ein klein wenig auf ein Sommerfestival versetzt fühle, doch dafür entscheide. Und schlussendlich feiern wir im Freien im Garten mit Freund*innen und Essen, Bier in Fässern, mit Lachen und Weinen vor Glück und Überwältigung, mit dreckigen Füßen und Tanzen bis zum Morgengrauen. Ich bin zutiefst berührt – und werde noch lange von diesen Erinnerungen zehren.
Kapitel 6 – Treffen in der Mitte
Also ja, es gibt schon mehr Gründe als nur das Studium, die mich von Kärnten nach Graz verschlagen haben. Heimweh kenne ich so gut wie nicht, habe ich selbst damals bei den Schulausflügen nicht verstanden. Wir, also meine Eltern und ich, telefonieren oft miteinander – quasi Wiedergutmachung für nicht angetretene Heimatbesuche. Mein Vater ist über 70, mit seinen Bypässen und der schlechten Lungenfunktion jetzt ein Hochrisikopatient. Nach dem ersten Lockdown treffen wir uns zum Spazierengehen auf der Pack, auf halbem Weg. Komisch dieses Distancing, eigentlich umarme ich sie gerne. Ein Freund hat mir die Corona-Umarmung gezeigt. Und jetzt hocke ich in einer Kniebeuge, mit meinen Armen die Hüfte meiner Mutter umschlungen, auf einem Parkplatz, drehe den Kopf zur Seite um sie nicht anzuatmen. Wir lachen. Es ist schön. Und ich verstehe nun doch, was Heimweh bedeutet.
Kapitel 7 – Psychotherapie
Ich arbeite viel, auch das ist immer wieder ein Streitpunkt in unserer Beziehung. Es macht mir Spaß – also das Arbeiten, das Streiten auch manchmal. Das letzte halbe Jahr habe ich versucht die Termine in der psychotherapeutischen Praxis zu reduzieren, die Master These schreibt sich ja leider nicht von alleine – und eigentlich muss ich davor noch die Zwischenarbeit abgeben, die bis jetzt nur ein leeres Word-File ist. Mit Beginn des Lockdowns schreibe ich alle Klient*innen an, ab heute nur noch Notfalltermine in der Praxis, telefonische Therapiegespräche möglich. Insgesamt telefoniere ich während des ersten Lockdowns 3x mit einer Klientin, alle anderen werde ich erst danach wieder sehen und hören. Es ist seltsam, auch ich habe mich an eine gewisse Regelmäßigkeit der Treffen mit ihnen gewöhnt und frage mich oft, wie es ihnen wohl gehen mag – ich hoffe gut! Die Gruppentherapie im Zwangskontext wird abgebrochen, die Gruppentherapie für Menschen mit Suchterfahrungen pausiert. Wann es weiter gehen kann, weiß niemand. Irgendwie war vieles gerade noch total auf Schiene, jetzt sind wir auf dem Weg ins Ungewisse. Verständlich und trotzdem immens frustrierend für mich. Mein Organisations- und Planungstrieb ist massiv unterfordert und meldet sich in Form von leicht depressivem, stundenlangem Auf-dem-Sofa-gammeln. Ich schaffe es nicht, trotz der ganzen plötzlich gewonnenen Freizeit, die Zwischenarbeit zu schreiben. Erst als ich weiß, dass ich in einer Woche wieder arbeiten gehen muss, füllt sich das Word-File wie von Zauberhand und ich werde entspannter. Auch ich bin gerade in Therapie, im Rahmen meiner Ausbildung nennt sich das Selbsterfahrung, was auch immer – diese Zoom-Meetings sind intensiv, intensiver als zuvor in der Praxis meiner Therapeutin. Gleichzeitig wird mir vieles klarer und das fühlt sich gut an.
Kapitel 8 – Beim Hautarzt
Er kommt nun seit etwa einem Jahr einmal pro Woche in die Ordination. Er ist operiert worden, wir machen die Nachkontrollen, versorgen seine Wunde. Sie heilt sehr langsam. Ich versuche ihm jedes Mal mitzuteilen, dass alles gut ist. Manchmal kann er es hören, manchmal nicht. Ich freue mich ihn und seine Frau wiederzusehen, ich mag beide gerne. Heute zeigt er mir eine Hautveränderung an seiner Wange. Dafür muss er seine Maske abnehmen. Und ich sehe ihn das erste Mal oben ohne. Interessant, ich habe mir sein Gesicht anders vorgestellt. Wie genau? Ich kann es nicht beschreiben, einfach anders. Schon komisch, dass mein Kopf diesem Mann einfach ein anderes Gesicht gezeichnet hat. Seltsam, dass mein Kopf damit begonnen hat Gesichter fertig zu zeichnen.
Kapitel 9 – Beziehung
Du machst dich also selbstständig. Ich finde das super und gleichzeitig bekomme ich Angst.
Ich hinterfrage gerade alles, jetzt habe ich ja auch genug Zeit dazu. Meine berufliche Situation, soziale Kontakte, meine Tagesgestaltung, meinen Körper, meine Beziehung. Hauptsächlich meine Beziehung. Vielleicht ist es auch eine Midlife-Crisis. Keine Ahnung. Ich bin genervt, den ganzen Tag über. Du kannst gar nicht so viel dafür und dann bist du doch wieder an allem schuld. Wir haben keine Krise, ich habe eine Krise mit dir und mit dieser ganzen eigenartigen Situation. Und selbst heute, rückblickend, kann ich nicht benennen, an was es gelegen haben könnte. An dem verflixten 8. Jahr? An Corona und der ganzen Unsicherheit? An der beruflichen Veränderung? An dem Gedanken, Kinder in die Welt setzen zu sollen? An meinem 30er? Und zwischen all diesen verworrenen Gefühlen, diesen seltsamen Zuständen in mir, habe ich es immer gewusst und weiß nun noch deutlicher, dass ich dich liebe.
Kapitel 10 – Work-Life-Balance
Ich habe jetzt eine Mädelsrunde. Eigentlich sollte ich Frauenrunde sagen – wir drei sind 30, 35 und 40 Jahre alt – , aber das klingt so erwachsen und spießig. Also wir treffen uns zum Laufen und Biertrinken, früher war das Bouldern und Lendplatzsitzen. Oh ja, ich liebe diese Damen und die Zeit, die wir miteinander verbringen. Und trotzdem wird es irgendwann fad, eine gewisse Monotonie schleicht sich ein. Es fehlt Input, es fehlen Dinge, die passieren, um sie zu erzählen, es fehlen andere Menschen. Und zeitgleich ist es bei uns dreien beruflich so turbulent, kräfteraubend und zeitintensiv wie noch nie. Mit Home-Office, Zoom-Konferenzen und Abschlussarbeiten verschmelzen Freizeit und Arbeit zum eher unangenehmen Einheitsbrei. Der Grat zwischen Langeweile und Überforderung ist schmal, auf diesem Weg wird Trittsicherheit vorausgesetzt. Ich taumle dahin, eine Touristin mit Flipflops an den Füßen. Und wenn wir drei Freundinnen uns sehen, dann taumeln wir ein kleines Stück gemeinsam.
Kapitel 11 – Beachwaves am Hauptbahnhof
Wir gehen laufen, damit habe ich während des ersten Lockdowns begonnen. Dazwischen habe ich abgebrochen und dann mit dem nächsten Lockdown wieder angefangen, Boulderhalle gegen Asphaltstraße getauscht. Mittlerweile keuche und fluche ich schon etwas weniger. Zu sagen, dass es Spaß macht, wäre übertrieben. Heute ist der erste warme Frühlingstag, der Fön bläst uns ins Gesicht. Ich habe mein Langarmshirt noch ausgezogen, Unterleiberl und Jacke reichen. Also, wir laufen im Dunkeln neben Bauzäunen und Neubauten. Noch nie habe ich die Sterne am städtischen Nachthimmel so klar gesehen. Wir tauchen gemeinsam ein in eine andere Welt, die Neubauten werden zu Hotelkomplexen, in deren Mitten Pools mit Bars platziert sind und Aquaaerobic für Nachtschwärmer angeboten wird. Unsere Sport-BHs reiben am Sonnenbrand vom Nachmittag, den Sand haben wir vorher aus unseren Schuhen gekippt. Der Abgasgestank wird zur Urlaubsbrise, vor dem Ausgehen noch schnell ins Hotelzimmer zum Vorglühen. Wir sind am Hauptbahnhof angekommen, unsere verschwitzen Haare sind zu Beachwaves geworden, der Schweiß zu Salzwasser aus dem Meer. Fünf Kilometer lang waren wir im Urlaub. Jetzt gehen wir wieder nach Hause.
Kapitel 12 – Wellenreiten
Ich wollte den Sommer voll genießen, auf Festivals fahren, an nichts denken. Ich wollte viele kleine Reisen machen, ans Meer und nach Hamburg. Im Herbst wollte ich Weitwandern gehen, Museen in Wien und Konzerte besuchen. Ich wollte im Winter Langlaufen lernen, snowboarden, mit Freundinnen Urlaub machen und in Bars sitzen. Ich wollte feiern und tanzen. Ich wollte unbeschwert sein. Und dann eventuell, vielleicht, wenn das alles gesättigt ist, unter Umständen mal an Kinder denken. Nach dem Sommer, dem Herbst und dem Winter. Es ist Frühling geworden und ich denke viel an Corona. Ich plane nach wie vor gerne, aber irgendwie traue ich mich oft nicht. Diese allgegenwärtige Unsicherheit schwappt immer wieder in unsere kleine Wohnung, bedroht mich manchmal zu ersticken. Gut für mich, dass das wenigstens mit dem Riversurfkurs Ende Sommer geklappt hat. Und ja, ich falle vom Brett, das tosende, kalte Wasser schlägt auf mich ein, die Strömung reißt mich mit, ich bekomme keine Luft, verliere die Orientierung, versuche mich mit Armen und Beinen in Richtung Oberfläche zu befördern – und atme. Und ich paddle zurück ans Ufer, schnappe mir mein Brett und springe wieder ins Wasser.