Sophies Geschichte
Drei gedankliche Puzzle-Teilchen (500 Teile in der Box!)
Nach fast einem ganzen Jahr lebe ich mit Corona wie mit einem schwer erziehbaren Kind. Und ich bin in diesem Fall auf jeden Fall eine lausige Pädagogin. Ich kenne im Umgang damit eigentlich nur Strenge und Disziplin, wie es mein Job auch von mir verlangt. Das macht müde, denn ich gehe in dieser Haltung kein bisschen auf, nein, sie widerspricht mir alle Nasen lang meinem Wesen, das so gerne loslässt!
Und gerade deshalb: Ich fange mit dem großen persönlichen Gewinn der Corona-Zeit zu erzählen an: Ich lebe seit 10 Monaten in der Gegenwart. Pläne, die die auch noch so nahe Zukunft betreffen, haben sich zu wankelmütigen Irrlichtern entwickelt. Diese anzusteuern machte anfangs natürlich noch vermeintlich Sinn, so war ich es ja auch gewohnt. Doch als ich dann immer wieder in letzter Sekunde frustriert kehrt wenden musste, wurde das uninteressant. Im Hier und Jetzt Dinge einfach gleich zu TUN, das gelingt hingegen wunderbar. So finde ich, da ich ja jetzt auch schon Übung drin hab, viele kleine und große Unterfangen, und heimse herrliche Gefühle wie Erfolg, Zuversicht und auch Freude und Leichtigkeit am laufenden Band ein. Strike! Die Kinder haben sich diesem Modell angeschlossen. Fühlen sich so auch die Amish? Könnte ich mir vorstellen. Wir leben, wenn wir frei haben, in unserer Bubble, unserer Kommune – denn Corona bleibt hier unwichtig und machtlos – und sind hier zuhause eigentlich lebendiger als vor Corona. Dafür sei indirekt in einer schrägen Form gedankt. Planlos macht mich froh und trittsicher! Genial.
Das Fürchterlichste an der Pandemie ist für mich – und hier bleibe ich jetzt immer noch in der kleinen, privaten Welt meiner Familie, meiner Werte und Gefühle -, dass die Generation betroffen ist, die noch so viel zu geben hat. Ich liebe sie stürmisch. Da sind diese vielen Geschichten, dieses unglaubliche Wissen, der Schatz an Lebenserfahrungen, eine Unmenge an Weisheiten, die durch Erlebtes, Erreichtes, Erlittenes entstanden sind. Und da ich (leider eh nur) in manchen zwischenmenschlichen Beziehungen die Gabe besitze, Leute für ihre mir lieben und wertvollen Seiten zu genießen und anderes fraglich Positives für die Zeit unseres Zusammenseins auszublenden, spreche ich unglaublich gern mit den ganz unterschiedlichen älteren Menschen über die spannendsten und buntesten Themen. Ganz abgesehen natürlich von meinen Eltern, meinen Verwandten, die ich einfach nicht bereit bin an dieses Virus zu verlieren. Vielleicht auch noch auf grauslichem Weg und ohne Abschied. NEIN! Da krampft sich mein Magen zusammen, da geht’s mir schlecht, ich krieg` eine Wut auf diese Ungerechtigkeit und die Machtlosigkeit! Meine Mutter hatte während des ersten Lockdowns Herzprobleme, sie bestand darauf ins LKH West gebracht zu werden, da dort das Ärzte-Team ist, das mit ihrer komplexen Krankengeschichte vertraut ist…. In die damals Corona-Klinik also, mitten rein. Es ging in dem Moment auf zwei Ebenen ums Leben. Ich durfte sie nur bis zum Wachposten vor dem Spital begleiten, eine Krankenschwester nahm meine Mutter dort etwas unwillig in Empfang, ging voraus, einfach mit Mamas üblicher Reisetasche für diese Zwecke in der Hand, zurück ins Gebäude. Mama verabschiedete sich von mir und ging ihr langsam hinterher und drehte sich auch nicht mehr zu mir um, bevor sie die Schiebetüren des Krankenhauses verschluckten. Ich wusste damals nicht, ob das gerade der letzte Blick auf Mama gewesen war. Ich hatte solche Angst um sie. (Dem Himmel sei es gedankt, sie wurde ohne Infektion wenig später wieder entlassen.)
Ich will es nicht bekommen, das Virus. Auf gar keinen Fall. Ich hab keine Panik davor, aber einen ordentlichen Respekt – ich habe genug live mitbekommen und begleitet. Da hat sich im Rahmen meiner natürlich gegebenen beruflichen Exposition jeden Tag ein Gefühl entwickelt, von dem ich mir vorstelle, das es so ist, als würde einem ein Harry- Potter- Dementor die Seele raussaugen. Und zwar stellt sich das mit einem Schlag in die Magen-Herz-Gegend ein, wenn sich die folgende, immer wiederkehrende schauderbare Situation ergibt: Ich erfahre plötzlich (meist im vertraulichen Ton), dass ich gerade hautnah an einem/r potentiell COVID-Erkrankten arbeite, der/die sich aus Sorge /Schamgefühl/was-weiß-ich-noch nicht als solche/r vorher geoutet hat, und ich somit nicht ausreichend geschützt bin. Es wäre für mich ein Leichtes mich zu schützen, es wäre unbedingt vorgesehen und alles wäre für alle gut. Aber nein – da hat jemand entschieden, dass er/sie nicht mit offenen Karten spielt. Aber sehr wohl spielt er/sie mit meinem Wohlsein, meiner Familie (alleinerziehend) und meiner Existenz (selbstständig)! Da kommt der eiskalte Griff in besagte Magen-Herz-Gegend. Da ist dann kein Ausflippen mehr sinnvoll, denn da ist es schon passiert mit der Ansteckung, wenn Kollegin Corona anwesend ist… Das sind so kleine Tode. Ist NICHT lustig. Abgesehen von allem anderen, was man über die Verursachenden dieser Szenarien sagen könnte. Auch hier wieder Dank dem Himmel – bis jetzt ist es immer glimpflich ausgegangen. Aber mir reicht’s unaussprechlich damit.
Fernbeziehung „unter der Krone“
Schon einmal versucht, Stirn an Stirn mit dem um Durchblick ringenden Herrn Verstand, der vollbusigen Frau Emotion und dem Barbapapatypen Herrn Vorschriftenkatalog zu stehen und sich seelenbefriedend zu einigen??? Richtig. Allein das Bild an sich, dass sich drei Stirnen aneinander drängen und jede gewinnen will, ist grotesk und eigentlich zum Schieflachen. Und der Erfolg des Ganzen so unwahrscheinlich, wie die gemeinsame Deckungsfläche der drei Köpfe bei diesem Versuch klein ist. So fühlt es sich für mich seit einem Jahr an, Fernbeziehung zu denken und zu leben.
Allein das Reisen… kafkaesk. Man spazierte anfangs in Flughäfen ohne Menschen, in denen auch kein offenes WC zu finden war, so zu waren sie eigentlich. Ich habe den verlassenen Schlund des Zubringers vom Parkplatz zum Terminal 3 gefilmt. Riesige Gänge ohne Leben. In dem Moment war ich froh darüber. Ein zweites Leben dort außer meinem eigenen hätte aus der sowieso schon vorliegenden Beklemmung mit großer Wahrscheinlichkeit Angst gemacht. Der Parkplatz davor, ebenso enorm in seinen Ausmaßen, hatte, wie Mückenreste auf der Windschutzscheibe verstreut, vielleicht fünf Autos drauf stehen. Am Rande dieses Parkplatzes, wie in einem Apokalypse-Movie, befand sich eine Art Würstelbude, die erleuchtet war, von der Musik und plötzlich wütende Schreie und Beschimpfungen herüberhallten – Männer, die gerade begannen sich zu prügeln.
Am Gate wurden Erklärungen über Aufenthaltsort in Deutschland, Einreisegrund und Testergebnisse kontrolliert. Einige Passagiere wurden abgewiesen, weil etwas fehlte. Teilweise hatten sie sich wohl sprachlich durch das Wirrwarr der Bedingungen nicht bis zum Ende mit Erfolg durchkämpfen können. Die typischen Klassenbilder taten sich auf. Im Flieger dann saß man wider den Informationen auf der Website der Airline nahezu Oberarm an Oberarm, wischte mit den eigenen und dem beim Einsteigen erhaltenen Desinfektionstücherln an Erreichbarem herum – Gesten, die beruhigten.
Fassungslos starre ich bis heute die Fluggäste an, die es für nötig erachten auf diesen kurzen 1h-20min-Flügen genussvoll eine Tasse Tee zu schlürfen, sich zu verschlucken und dann, natürlich maskenfrei, durch die anderen Passagiere zu prusten. Neulich hielt ein Typ sogar seinen Becher mit beiden Händen fest, trank wie ein Kindergartenkind, weil es solche Turbulenzen gab, aber weiterjausnen musste er!
Nach dem Flug liegt immer noch eine Stunde Deutsche Bahn vor mir. Auf der Fahrt frage ich mich oft, wie das weltweite Spiel denn nun eigentlich wirklich heißt und was die Ziele sind. Eher „Catch me if you can“ als „Schau auf dich, schau auf mich“, denn es scheint manchmal doch mehr drum zu gehen möglichst alle Vorsichtsmaßnahmen wegzulassen und zu schauen, ob man ohne erwischt zu werden, von A nach B kommt. Ich rede mir dann ein, dass ich in der Ordination täglich größeren Risiken der Ansteckung ausgesetzt bin, als völlig vermummt unterwegs zum Mann, aber ganz gut fühlt es sich nie an. Mit einem Wort: Das Reisen ist kein Spaß. Soll es ja auch grade nicht sein. Nur wir beide können es natürlich nicht vermeiden, wollen wir unsere Beziehung weiter leben.
Zurück zu den drei Stirnen. Am Anfang der Krise, als alles zu war, keine Flugzeuge flogen, haben wir uns sehr lange nicht gesehen. Wir sind keine Videotelefonierer, also blieb es uns, Nachrichten und Fotos zu schicken und zu telefonieren.
Dann wurde Someone – so wollen wir meinen Partner hier nennen (habe ich geklaut: Alice Thomas Ellis bezeichnet ihren Ehemann in ihren „Home Life“- Büchern ebenso) unruhig, meinte, er würde über die grüne Grenze kommen und keiner hätte das Recht, uns zu trennen und niemand könne es ihm verbieten, zu seiner Frau zu kommen! Auch wieder wie im Film, nur ganz wahr. Aber wie tun? Someone schrieb auch an den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, dass in den Ausnahmengenehmigungen für Ein-und Ausreisen Paare mit getrennten Wohnsitzen wohl hineingehörten. Er bekam prompt Antwort, dass dies wirklich vergessen worden war und nun stehen „wir“ drinnen! Niemand wird mir übelnehmen, dass nach meiner Wahrnehmung das allein Someones Verdienst ist.
Jedenfalls hatte ich Angst – vor allem eigentlich. Dass Someone nicht heil herkommt, dass er sich unterwegs infiziert, dass er aufgehalten wird oder wir alle gemeinsam krank werden (wie romantisch, „Liebe in den Zeiten…“ und-so-weiter).
Ein paar Mal habe ich es auch zugelassen, dass ich die Beziehung, die Epidemiologie, die Liebe, die Verantwortung und die eventuell resultierenden Konsequenzen in den Blender meines Kopfes geworfen und auf volle Tourenzahl gedrückt habe. Ich muss jedes Mal feststellen, dass ich nicht genug aktive Gehirnwindungen besitze, um das Gemisch aus Sinn und Unsinn, Tatsachen und Gesponnenem kognitiv zu erfassen. Im Gegenteil, es macht mich nur groggy!
Heute bemühe ich mich auch, was unsere Beziehung und die Umstände angeht, in Schubladenbühnen zu leben, die ich je nach Anlass öffne oder schließe. Die Tagesverfassung bestimmt, wie gut ich genießen kann, cool bin oder hin und wieder neue Angst bekomme.
Die Polarität eines einzigen Themas, hier unserer Fernbeziehung, und die Unmöglichkeit sie fertig zu denken, ist für mich zum Markenzeichen der Coronazeit geworden. Achterknoten im Kopf kriegt man zusammen, aber keine Antworten – also weiterhin besser „all ends loose“…
Das regenbogenfarbene Puzzleteilchen
Eine junge, eine nach außen und zur Gesellschaft hin „neue“ Frau hatte ihr Coming-Out im letzten Herbst durchgezogen. Sie hatte über die wärmenden Sommermonate den Mut als festen Boden zur ihrer schon lange bestehenden Gewissheit gesammelt und sich erst ihren engsten Freunden und danach gleich ihrer Familie als Frau, in den falschen Körper geboren, vorgestellt. Sie hatte Glück, ihre gesamte Umgebung über die Generationen und Länder hinweg war bunt und offen und interessiert und liebevoll – und mehr als bereit mit ihr den gewählten Weg zu gehen. Die junge Frau am Aufbruch auf die Reise zu sich selbst wurde also auf das Wärmste begrüßt.
Doch weiter als bis hierher, weiter als ihre Geschichte bis zum Erkennen zu erzählen, kam sie nicht. Sinuskurvenmäßig knallte der jungen Frau Corona auf ihren Aufschwung des Coming Outs die rasselnde Talfahrt in den Lockdown vor den Latz. Zuerst einen, dann noch einen nächsten und diesmal war es ein sehr langer, obendrein war es Winter und alles dunkler und mühsamer. Die junge Frau musste wie alle zuhause bleiben. Allein, nur mit ihrer Mutter und Schwester. Der frische, beglückende Wind, der der jungen Frau am Ende des Sommers so lebendig durch die Haare geweht hatte, war irgendwie geisterhaft abgeflaut. Die neu gekauften Kleider trug sie manchmal, aber niemand sah sie darin. Ihren Lidstrich zu ziehen beherrschte sie bereits makellos, aber sie konnte aus ihren Augen nicht in die Augen der Welt da draußen sehen, sondern nur in den Spiegel. Nichts geschah. Außer, dass sich ein fahles Gefühl in ihrer Seele entwickelte.
Im Inneren der jungen Frau hatte sich schließlich das Universum neu geordnet, aber in der Außenwelt stand alles wie eingefroren still. So, als hätte sie sich das alles doch nur ausgedacht. Dabei war doch NICHTS wie vorher, aber der Beton, in den sie das Corona im Lockdown gegossen und feststecken hatte lassen, der wollte sie und ihre Lebendigkeit nicht wahrnehmen. Er ignorierte sie, ließ sie keine Haaresbreite vom Fleck. Ihre Seele wurde wund. Diese war eigentlich so voller Knospen ihres Wesens, und die schienen nun den über die Länder und Kontinente hinweg wütenden, beißenden Frost abzubekommen. Es schmerzte so, dass sich die junge Frau trotz besseren Wissens komplett sicher war, dass eine Seele ein großes, sehr materielles Organ sein müsse, denn Nichtstoffliches konnte doch sicher niemals so furchtbar wehtun.
Sie riss sich mit großer Anstrengung am Riemen. Fast war es so, als hätte Corona wie ein böser Dämon ihr den Eintritt in ihr so tapfer gewähltes Leben verwehrt. Ein Alptraum war es, in dem sie an der Schwelle stand und losgehen wollte – aber weder war da jenseits davon eine Welt, noch waren da Menschen, denen man sich als „Neugeborene“, als Newcomer-Frau zeigen konnte. Denn durch die Interaktion mit anderen würde der nächste wichtige, so aufregende und auch furchterregende Schritt erst möglich und die Transformation wahrhaftig werden.
Brutal blieb die junge Frau also zurückgewiesen und ausgebremst vom Virus. Die Beschleunigung in ihr Ichsein hinein verlor sich wie ein Bremser mit bloßen Knien am Asphalt bei einem Sturz mit Inlinern, wenn ein kleines Steinchen in die Rollen kam.
Ein winziges Virus war es, aber für mich fühlte es sich im Namen der jungen Frau an, als wären die wahnsinnigen Machthaber der Staaten, die Menschen weiterhin wegen ihrer Sexualität diskriminieren, verfolgen und Schlimmeres, in Verkleidung als Corona vor ihr aufmarschiert.
Die junge Frau erlitt aus all den Widrigkeiten heraus auch einen Zusammenbruch. Ihre Klarheit, ihr so gewaltiger Wunsch und die unausweichliche Notwenigkeit, an ihr Ziel zu kommen, verliehen ihr aber erneut Kraft. Sie sammelte sich und ihre Facetten, ihre Gedanken, ihre Mühseligkeiten vom Boden auf und entschied zumindest einmal ihren Namen zu ändern. Dafür würde sie Menschen treffen, sie würde Blicke, Töne und Haltungen ernten und sie würde für sich einstehen können. Wieviel die Sehnsucht und Klarheit ums eigene Wesen der jungen Frau Kraft verleiht, erfüllt mich stummer Ehrfurcht. Sie weiß Dinge über sich, die ich wahrscheinlich über mich noch nicht einmal zu überlegen begonnen habe. Sie bejaht und wählt das Frausein, weil sie Frau IST.
Corona als Cocktailkirsche auf den Eisbecher der Herausforderungen, die auf die junge Frau warten, hat sie gleich zu ihrem persönlichen Anfang draufgesetzt bekommen. Welche enorme Prüfung das womöglich noch einmal für sie war, möchte ich mit gar nicht versuchen vorzustellen.
Sie ist megastark, die junge Frau. Eine Iron Woman der zartesten, entschiedensten und berührendsten Art. Noch ist sie für mich wie ein lichteres Fabelwesen, wohl auch durch ihre Klarheit und ob ihres corona-bedingt unfreiwilligen Exils und ihrem Drang, ihre Zukunft zu erobern.
Sie leuchtet, die junge Frau.
Das verschwommene Puzzleteilchen
Ein Tagebuch
Ich stehe im Badezimmer und gurgle. Ich gurgle und betrachte mit nach hinten geneigtem Kopf, wie das Spiegellicht die schmalen Zwischenräume den Fliesen entlang strahlt und dann in gleichmäßigen Winkeln helle Streifen an die nicht mehr gekachelte Wand darüber zeichnet. Ich bin verwirrt. Oder ich verdränge zu wenig und tauche aus Versehen in nicht achtsamen Momenten aus meiner Parallelwelt auf und alles Mögliche und Unmögliche purzelt in meinem Kopf durcheinander. Mein Kopf, oder gar schon mehr von mir, steht unter Alice-im-Wunderland-Verhältnissen.
Jedenfalls ist es der 4. Tag. Tag 4 nach 20 Minuten, die ich gemeinsam mit meiner Reinigungsdame in der Praxis, noch Rückrufe an PatientInnen abtelefonierend, gesessen bin, und die Arme ist 2 Tage später krank geworden. Es hat sie tatsächlich erwischt. Sie tut mir so leid! Es geht ihr zum Glück nicht arg schlecht, grippig eben, sagt sie. Ich hatte sie, nachdem sie vorgestern, an meinem Tag 2, angerufen hatte, gleich mit allen Medikamenten versorgt, denn es war Samstag und ihre Ärztin nicht erreichbar. Wir wollten uns gerade verabschieden, da erzählte sie mir, dass ihre Mutter, die mit ihr zusammenwohnt, noch am Freitag am Abend in der Praxis – quasi als ihre Vertretung – geputzt hätte. Ok… danke… (Mist!), hin und her gerissen zwischen gerührt sein und Infektionskettengerassel verabschiede ich mich. Wir bleiben in Kontakt. K1 und Corona also sicher in den Praxisräumen….
Das ist die eine Geschichte. Ich gehe also morgen sehr früh rein, in voller Montur – 60 Stunden nach K1 in der Praxis – und weise dem Virus höflich desinfizierend wie ein Cleaner im Roadmovie die Türe. Keimfrei muss die Bude sein, wenn wir unseren Arbeitstag starten. Ich war dem Biest noch nie bewusst so nahe. Wird schon schief gehen. In Gedanken werfe ich etwas verstreutes Salz über meine linke Schulter und real klopfe ich ein paar Mal auf das hölzerne Badezimmerregal.
Die andere Geschichte ist die: Die arme Frau, die armen Putzfrauen überhaupt… ein Licht in Coronazeiten auf diese Personengruppe zu werfen, die oft nicht angemeldet, womöglich ohne Versicherung und ohne Pensionsjahre zu sammeln, wie gute Geister im quasi Verborgenen das Zuhause und Arbeitsplätze von Unzähligen überhaupt erst bewohnbar und schön machen, ist wahrscheinlich schwierig. Aber man stelle sich bitte vor, sie exponieren sich durch ihre vielen Kontakte und ihr Arbeiten in möglicherweise kontaminierten Badezimmern, Küchen, Schmutzwäschen und den vielen verschiedenen Örtlichkeiten, an denen sie mit allerlei und bestimmt nicht stets geschützt in Kontakt kommen, in einem überdurchschnittlichen Ausmaß… ich jedenfalls habe noch nicht viel reden hören über diese so wichtige Personengruppe, auch über die „im Lichte“ Stehenden davon nicht.
Zurück zur Praxis. Wir arbeiten seit einer gefühlten Ewigkeit nur noch mit Maske bereits beim Betreten der Ordination in Allerherrgottsfrüh. Deshalb hatte ich auch vor 4 Tagen eine auf, ebenso wie meine bereits infektiöse Putzfrau. Ich bin ja auch schon 1 x geimpft. Meine Putzfrau durfte ich damals bei den für Ordinationen angebotenen Impfterminen nicht mitanmelden, da sie keinen direkten Patientenkontakt hat. Ich möchte schreien ob dieser Ungerechtigkeit!
Jedenfalls, auch die 1. Impfung senkt mein Risiko zu erkranken noch einmal. Donnerstag (Tag 8) wäre auch meine eigene zweite Impfung. Schon vor dem ersten Impftermin hatte sich mein Fokus punktförmig auf diesen Ereignistag, den Game Changer, reduziert, so wie wohl ein Spitzensportler alles andere in seinem Leben auf den Wettkampftag hintrimmt.
Vor dem 2. Termin, auf den datumsgleich uns auch die 2. Impfung der Ü80-jährigen eingeteilt wurde, kommt diesmal statt dem Countdown eine andersartige Würze durch den stattgefundenen Kontakt und die Dekontamination morgen dazu.
Ach ja, ich habe übrigens starkes Halsweh… am Tag 4; hatte ich das schon erwähnt? All meine Antigentests, denn 2x täglich schaue ich nach, waren bis jetzt negativ. Meine Güte, tät‘ ich mich freuen, wenn es bis Donnerstag so bliebe… inzwischen weiter, immer weiter, Überlegungen verdrängen hilft. Das passiert ja ganz automatisch, sonst würden wir ja verrückt an der Front! Das passt gut so. Nur manchmal weiß ich plötzlich gar nichts mehr. Mein Kopf ist wie verschleiert, und es ist unklar, ob die eingestellten Mechanismen die richtigen sind. Das macht nachdenklich, aber meist ist dann erst wieder nichts fassbar. Nun denn, weiter in der Mühle. Man kommt sich vor wie der Kaffee, der gemahlen werden muss, damit es in der covidelnden Welt nach Leben duftet.
Tag 5: nach einem Desinfektionseinsatz im Imker-Look vom Mars war ich also gestern mit einem besonderen, neuen Gefühl den ganzen Tag in der Praxis. Diese Verantwortung, die ich seit Corona zusätzlich habe, war so materialisiert, dass sie und ich uns spürbar um den Platz auf meinem Schreibtischsessel gerangelt haben. Gegen Abend ist sie endlich mit dem Frühlingssturm draußen beim Fenster hinausgezogen. Mir kam vor, sie hat dabei hämisch gekichert. Ich bin halt so spießig akribisch, wenn es um das mir anvertraute Wohlsein anderer geht. Da hat sie leicht lachen.
Tag 6 startete so: Ich bin in der Früh schweißgebadet aufgewacht, weil ich geträumt hatte, dass mir beim Zubereiten des Impfstoffes für die Ü80-jährigen eine ganze Phiole wegen Überdruck in der winzigen Glasampulle um die Ohren gespritzt ist! Es ist tatsächlich eine nervenzerfetzende Herausforderung, in diesen Miniaturgefäßen die unsichtbaren Druckverhältnisse abzuschätzen. Kein Tropfen darf verloren gehen. Und es gibt gefühlte tausend Konstellationen des Schicksals, die einem (zwischen Einbringen der Lösungsflüssigkeit, Absaugen von 1,8ml Luft zur Druckentlastung – ja nichts aufwirbeln, das zerstört den Impfstoff -, Nadelwechsel, Injektionsspritzen 1-6 aufsetzen und wieder von der Nadel lösen) das heilige Elixier leise zischend und unstoppbar entgegenkommen lassen können.
Ich bin weiter negativ. Meine Putzfrau fiebert und riecht nichts mehr.
Tag 7: es sieht zumindest für mich gut aus! Wieder negativ getestet stehen jetzt nur noch 15 Stunden bis zum Impfen wie Dominos aufgereiht vor mir. Auf der schmäleren Seite des Dominosteins versteht sich. Vor meinem sich unter dem Druck etwas verwaschen anfühlenden inneren Auge tanzen im Halbdunkel allerlei Dämonen noch potentiell drohender Widrigkeiten auf den letzten Metern meiner Zielgerade zur morgigen zweiten Ü80-Impfrunde um die Steine herum.
Der „Sache“ also geht’s gut, mir selber nicht mehr. Heute, da es ziemlich sicher scheint, dass ich mich vor einer Woche nicht angesteckt habe, spüre ich das ganze Gewicht der Verantwortung, die ich in mein großes Verdrängen am allertiefsten und nach ganz unten reingestopft hatte. Was wäre gewesen, wenn ich morgen krank und somit niemand da gewesen wäre, um die heiligen Impfstoffdosen an die so tapfer aber dringend und drängend wartenden Menschen zu verabreichen??? Mir ist das eigentlich alles zu viel. Mittlerweile und überhaupt. Ich sehne mich nach leichten und ästhetischen Nichtigkeiten und auch die hängen nicht von mir ab. Ich möchte gerne eine Weile keine tragende Rolle spielen. Doch STOPP! Ich hatte mir doch selber vor vielen Monaten in einer ganz ähnlichen Situation schon streng gesagt: Es ist die Zeit der Unausweichlichkeit. Also werden meine Frau (die Ärztin), die ich weiter stehe, und ich (ich) morgen und weiter auch für uns alle die uns navigierbaren Schiffe sicher in den Hafen bringen. Ich kann das ()….
Ich putze mir die Nase, wische die paar Tränen weg. Gute Nacht.
Tag 8: geschafft, alles…
Meine Putzfrau hat noch etwas Kopfweh und riecht und schmeckt nichts. Das Fieber ist weg. Jetzt ist ihre Mama positiv.
Man kann es einfach nicht fertig denken. Diese Parallelwelten… Ich hasse das, und mein Kopf auch.