Geschlechterrollen im Wandel

Stefan, 40, verheiratet, Sozialarbeiter im Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark, Mitglied der GenderWerkstätte

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Gleichstellung und Rollenbilder ist eine zeitlich junge Geschichte. Erzählungen im Projekt aus*rollen handeln von Zuschreibungen und Sätzen der Eltern- und Großeltern-Generation mit vorgegebenen Geschlechterrollen, die nicht anders gekannt wurden und damals (möglicherweise) unhinterfragt geblieben sind. Die Zeitgeschichte ist prägend für Erzählungen im hier-und-jetzt, für das gegenwärtige Erleben von Geschlechterrollen, von Sexismus, von Abwertungen, von Reaktionen (z.B. „und ich blieb still“) und Gegen-Reaktionen (z.B. „übertreibe nicht, du bist hysterisch“).

Vom Patriarchalen zum Partnerschaftlichen Familienmodell
Der beginnende Wandel von Geschlechterrollen kann anhand des Wandels des Familienmodells in Österreich folgendermaßen beschrieben werden: Bis in die 1970er Jahre galt ein Familienmodell, das den Mann als Oberhaupt der Familie betrachtete. Dieser versorgte die Familie, regelte die Beziehungen nach außen, traf wirtschaftliche Entscheidungen alleine. Die Frau hatte die Pflicht zu gehorchen und durfte z.B. nur mit Einwilligung des Mannes einer Erwerbsarbeit nachgehen. Gewalt in der Familie war entweder nicht verboten (körperliche Züchtigung von Kindern), oder wurde nur selten verfolgt (Gewalt gegen Ehefrauen). Vergewaltigung in der Ehe existierte nicht als Straftatbestand. Bei einer Scheidung standen die Rechte des Mannes im Vordergrund.

 

Durch den gesellschaftlichen Wandel in den 1970er Jahren, durch das Engagement der Frauenbewegung und unterstützt durch innovative Gesetzgebung der damaligen Regierung unter Bruno Kreisky, hat sich das Prinzip der Partnerschaftlichkeit großteils durchgesetzt – und auch in die gesetzlichen Regelungen Eingang gefunden: Alle Menschen in einer Beziehung haben gleiche Rechte und Pflichten. Frauen dürfen selbstständig über ihre beruflichen Tätigkeiten bestimmen, wirtschaftliche Entscheidungen treffen, sowie Beziehungen zu Behörden und anderen staatliche Stellen aufnehmen. Jede Form der Gewalt gegen Partner:innen oder Kinder ist verboten und wird bestraft. Bei Scheidungen steht das Kindeswohl im Vordergrund.

Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung war zwar für diese beschriebenen Veränderungen, aber vor allem Männern mit traditionellem Geschlechterrollenbild fiel es schwer auf einen beträchtlichen Teil ihrer gewohnten Macht zu verzichten. Neues musste entstehen: Andere Rollenbilder, mehr Kommunikation, geteilte Verantwortung, weniger automatische Zuschreibungen.
War es bis in die 1970er Jahre noch so, dass die Familie ein Privatraum war, in dem außer der Herkunftsfamilie (vor allem des Mannes) niemand Einfluss hatte, öffnete sich dieser Raum – und Privates wurde zunehmend Politisch. Zur Unterstützung der Gleichstellung und Gleichberechtigung aller Menschen wurden Vereine und Institutionen gegründet, Organisationen haben sich geformt, Behörden und Gesetze wirken nun aktiv im Familienleben mit.

Gesetzliche Rahmenbedingungen in Österreich und historische Meilensteine zur Entwicklung von Geschlechtsrollen

1918: Frauenwahlrecht in Österreich

1975: Familienrechtsreform: Die einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft wird festgeschrieben: Frauen dürfen ohne Zustimmung des Mannes arbeiten, über den Wohnsitz mitentscheiden (d.h. es gibt kein Folgerecht der Ehefrau bei Ortswechsel mehr) und den Familiennamen wählen. Es gibt kein Züchtigungsrecht des Mannes mehr, die Kinder bleiben bei Scheidung nicht mehr automatisch bei ihm, und eine Ehefrau darf eigenständig Verträge unterschreiben und kann damit z.B. selbstständig ein Konto bei einer Bank eröffnen.
Weiters: Fristenlösung (Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zum 3.Monat) wird eingeführt. Züchtigungsrecht in der Schule wird abgeschafft
1977: Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber den Kindern abgeschafft

1978: Eröffnung des ersten Frauenhauses in Österreich
1982: Eröffnung Frauenhaus Graz
1984: Der Verein „Frauenservice“ Graz wird unter dem Namen „Verein Frauenberatung und -selbsthilfe“ gegründet
1984: Erste Männerberatungsstelle Österreichs in Wien gegründet
1989: Vergewaltigung und geschlechtliche Nötigung wird auch in der Ehe oder Lebensgemeinschaft strafbar
1990: Kurzer Blick in die Schweiz: Das Frauenwahlrecht im Kanton Appenzell wird eingeführt
1996: Gründung Männerberatungsstelle Steiermark (2014: Umbenennung in Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark)
1997: Österreich beschließt als erstes Land in Europa das Gewalt¬schutzgesetz. Damit wurden Interventionsstellen wie die Gewaltschutzzentren eingerichtet. Das Gewaltschutzgesetz beinhaltet Wegweisungen, das Betretungsverbot und die einstweilige Verfügung.

Ab den 2000er Jahren: Das Bildungsministerium schreibt: „Die Verwendung eines geschlechter-gerechten Sprachgebrauches ist eine wichtige Grundlage zur Umsetzung des Gender Mainstreaming“
2000: eigenständiger Anspruch auf Väterkarenz, Teilungsmöglichkeit der Karenz bis zum 2.Lebens-jahr
2001: Gründung der GenderWerkstätte Graz
2001: der erste „Girlsday“ wird in Österreich umgesetzt (für Impulse und neue Blicke auf die Berufswelt)
2008: der erste „Boysday“ findet statt – „mehr Männer* in Sozial- und Gesundheitsberufe“
2013: Österreich ratifiziert die Istanbul Konvention (von 2011) mit der Verankerung der Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung und dem Rechtssystem – 2014 tritt diese in Kraft
2015: Der §218 StGB wird eingeführt, der „Grapsch-Paragraf“: Po und Oberschenkel sind künftig als „der Geschlechtssphäre zuzuordnende Körperstellen“ geschützt
2015: Conchita Wurst gewinnt für Österreich den Eurovision Song Contest – Männlichkeiten, Weiblichkeiten und Geschlechter werden diskutiert
2017: Ehe von homosexuellen Paaren wird ermöglicht (seit 1.1.2019 wird geheiratet!); Entkriminalisierung von Homosexualität: 1971 Totalverbot aufgehoben; 1997 letzter diskriminierender Paragraph im StGB ist gefallen

#metoo, ab 2017: auch in Österreich kommt es zu einer Auseinandersetzung mit Sexualisierter Gewalt, die Öffentlichkeit wird sensibilisierter.
Projekte und Veranstaltungen werden umgesetzt, z.B.: „Sexismus im Gemeinderat“, „Sexismus im Hochschulkontext“ oder „Intervenieren bei sexistischen Reden bei Großgruppenveranstaltungen“. Zunehmend vernetzen sich Menschen, „Mansplaining“ wird zum gekannten Begriff, im öffentlichen Raum sind die Nachrichten der Catcalls zu lesen.

Privates wird politisch

Der Mann, der besitzt, der kontrolliert, der die Familie ernährt, der bestimmt,… das automatische Recht des Mannes sich zu nehmen was er möchte… Mit den 1970er Jahren wurde der private Raum der Familie und damit das Rollenverständnis des Mannes gesetzlich neu hinterfragt und öffentlich diskutiert. Eine Kommunikation auf Augenhöhe wird zunehmend wichtig, Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und auszudrücken, teilen, einen Umgang mit einem „nein“ reflektieren und lernen, Rollen anders einkleiden. Mit der Veränderung vom Patriarchalen hin zum Partnerschaftlichen Familienmodell wurde „Privates politisch“.
Gesellschaftliche Veränderungen setzen sich meistens nicht von einem Tag auf den anderen durch und brauchen Auseinandersetzung. In den letzten drei Jahrzehnten entwickelte sich unter anderem die Geschlechter- und Männlichkeitsforschung, es wird zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) unterschieden. Für Rywan Connell ist Gender eine Praktik, die alles bestimmt und die Welt erschafft, in der wir leben (Masculinities, 1995). Für Michael Kimmel sind Männer so an ihre Privilegien gewöhnt, dass sich Gleichbehandlung regelrecht wie Unterdrückung anfühlt (Angry White Men, 2013).
Und: Männern sind sich ihrer Privilegien oft nicht bewusst.
Mir, als Stefan, als langjähriger Sozialarbeiter und Trainer in der geschlechterreflektierenden Arbeit, biologischer Mann und weiß-männlich sozialisiert, wurde durch das Lesen der Texte im Projekt aus*rollen Erlebtes und Erfahrenes von Frauen* vor Augen geführt, dass mir so in dieser gegenwärtigen Intensität nicht bewusst war. Subtile Erlebnisse des Alltags wie ein Nachpfeifen, Bemerkungen zu den Brüsten oder Blicke in den Ausschnitt, oder als Ärztin nach wie vor für eine Krankenschwester gehalten zu werden.
Durch dieses Nicht-Bewusstsein verdränge ich bzw. nehmen viele Männer* dieses Alltagserleben von Frauen* nicht wahr. Durch Texte und Erzählungen des Projektes aus*rollen werden Perspektiven erweitert – auch meine Perspektiven. Das eigene Bewusstsein für verschiedene Wertigkeiten im Kontext Geschlecht wird geschärft, für Geschlechterrollen und Zuschreibungen, für Blicke, für unscheinbar Gesagtes. Mit geschärften Bewusstsein kann Entwicklung und Veränderung stattfinden.

Jens van Tricht sagt: „Wenn wir den Gedanken aufgeben, Männer müssten männlich und Frauen weiblich sein, und wenn es uns darüber hinaus gelingt, alle menschlichen Eigenschaften als wirklich ebenbürtig wertzuschätzen, können wir in Freiheit und Gleichheit Entscheidungen über das Leben treffen, das wir gern führen möchten, zusammen und allein. Dann können wir an einem Paradigmenwechsel arbeiten, einem Übergang und einer Kehrtwende in Richtung einer friedfertigeren, gerechteren Welt. Es reicht nicht, wenn diese Veränderung nur in Organisationen und Systemen stattfindet, sie muss auch in uns als Menschen stattfinden.“ (Warum Feminismus gut für Männer ist, 2018).
Die Gleichwertigkeit aller Menschen ist das Ziel. Wie wäre ein emanzipiertes Miteinander zwischen allen Geschlechtern möglich? Was wäre der Nutzen daraus für alle Menschen? Wie würde es dann mit einem gesellschaftlich breiten Bewusstsein für Sexismus aussehen? Und wie angenehm wäre es dann für alle Menschen, wenn es keine Zuschreibungen, Abwertungen und Übergriffe aufgrund des biologischen Geschlechts, oder anderen Kategorien, oder Äußerlichkeiten gibt?
Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Gleichstellung und Rollenbildern ist eine zeitlich junge Geschichte – wir sind in Bewegung.