Dana

Ärztin, Psychotherapeutin, 31, in einer Beziehung, keine Kinder


Kapitel 1 – Turnunterricht
Ich stehe immer am Rand. Egal, ob es die Reihe beim Mädchenturnen ist oder beim gemischten Turnen. Ich bin mit Abstand die Größte. Es ist mir peinlich, ich fühle mich ausgeliefert, an den Pranger gestellt. Mädchen-sein heißt für mich lieb, zart, hübsch und klein zu sein. Ich bin riesig. Ich hasse das, ich hasse mich.

Kapitel 2 – Der erste Freund
Alle Mädchen in meiner Klasse hatten schon einmal einen Freund und geschmust, manche hatten Sex. Und ich – ich bin zu groß. Beim ersten Skikurs starrt mir mein Tanzpartner permanent auf meine noch nicht vorhandene Brust, einfach nur, weil sein Kopf unter meinem Hals endet.
Und dann mit fast 14 Jahren habe ich meinen ersten Freund. Er geht in meine Nebenklasse. Ich mag ihn, weil er Interesse an mir zeigt. Er hat sich mich ausgesucht, nicht ich ihn.
An Tag eins sind wir sehr schüchtern und winken uns von weit weg zu. An Tag zwei steigt er auf einen Randstein, um den Größenunterschied auszugleichen, und ich bekomme am Busbahnhof mein erstes Bussi. An Tag drei macht er Schluss. An Tag vier erfahre ich, dass er an Tag zwei bei McDonalds mit der Freundin seines besten Freundes geschmust hat.

Wir treffen uns zehn Jahre später in Graz. Nach einem Kübel Long Island Icetea stehen wir in der Zinzendorfgasse. Er steigt auf einen ziemlich großen Stein neben dem Gehweg, will mich küssen. Déjà vu!? Ich will nicht mehr so sein wie damals. Ich muss nicht wollen, nur weil er will. Ich will mich nicht mehr wie ein großer Alien fühlen. Ich drehe mich um, setze mich aufs Rad und fahre heim.

Kapitel 3 – Die erste längere Beziehung
Also ja, eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Seine Sympathie für Jörg Haider nehme ich einfach nicht ernst und dass er seine Unsicherheit mit Arroganz überspielt, ist mir von Anfang an klar. Er ist circa 12 Zentimeter kleiner als ich. Die ersten vier Monate unserer Beziehung traut er sich nicht mit mir Hand in Hand durch die Stadt zu spazieren, es ist ihm peinlich. Er ist eifersüchtig auf mein Medizinstudium, mag meine Freund*innen nicht. Nach weiteren zwei Monaten beginnen wir uns fast jeden Abend zu streiten, meistens weinen wir beide. Ich will mich trennen, tue es aber nicht. Das mit der Sexualität wird zunehmend schwieriger, ich habe einfach keine Lust mehr auf ihn. Nach zweieinhalb Jahren trennt dann er sich von mir. Er erzählt Freund*innen und Bekannten, ich hätte ihn entmannt. Wir hatten einige Monate nicht mehr miteinander geschlafen, auch das erzählt er im ganzen Ort herum. Ich schäme mich dafür – was ist mit mir nicht richtig? Ich bin jung, ich muss doch wollen. Oder zumindest so tun als ob. Aber das kann ich nicht. Mir ist das alles so peinlich, dass ich mich über ein Jahr nicht mehr in die Bar in seinem Heimatort traue.

Mit der Zeit wird es leichter. Der Austausch mit Freundinnen und Therapie helfen mir sehr. Und ich werde wütend – auf ihn; darauf, dass man als Frau das Gefühl hat, Pflichten erfüllen zu müssen; darauf, dass ich mich schäme, wenn er auf mich keine Anziehung mehr ausübt; auf die ganze beschissene Situation. Und endlich gehe ich wieder in diese Bar.

Kapitel 4 – Die Medizinstudentin
Ich stehe an einer anderen Bar und bestelle mir ein Bier. Es ist irgendein Fest im Nachbarsort. Ein Typ stellt sich neben mich und beginnt ein Gespräch. Er fragt mich, was ich denn so mache. Ich erzähle, dass ich seit einem halben Jahr in Graz bin und Medizin studiere. Er sagt, verarsch mich nicht, und lacht. Ich sage, nein, war nur ein Scherz, ich bin Wurstwarenfachverkäuferin. Er nickt und lächelt erleichtert und lädt mich auf mein Bier ein.

Später antworte ich oft auf die Frage, was ich denn beruflich so mache, dass ich im Krankenhaus arbeite. Es ist irgendwie unverfänglicher. Ich fühle mich dabei nicht so überheblich. Ob dies mit meiner Erziehung oder doch mit meinem Frau-sein zusammenhängt, kann ich nicht sagen. Man soll nicht prahlen, man soll sich klein halten und ja nicht angeben. So habe ich das gelernt. Und wenn es nur um die Antwort auf die banale Frage nach meinem Beruf geht..

Kapitel 5 – Die Krankenschwester
Patient: „Schwester, Schwester! Entschuldigen Sie, können Sie mich aufs Klo bringen?“
Ich: „Entschuldigung, ich bin Ärztin. Aber ich rufe Ihnen gerne die Schwester, wenn Sie aufs Klo gebracht werden müssen.“
Patient: „Aber können Sie nicht schnell?“
Ich läute die Glocke, ignoriere den Patienten. Ich bin es leid, dass ich andauernd für eine Krankenschwester gehalten werde und mich dann irgendwie arrogant fühle, wenn ich mich als Ärztin zu erkennen gebe. Und trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen – hätte ich nicht doch schnell helfen sollen? Ich fühle mich schlecht, aber wenigstens entschuldigt habe ich mich.

Kapitel 6 – Der Arzt
Eine Mutter kommt mit ihrem vierjährigen Sohn zur Muttermalkontrolle. Das ist für mich immer ganz nett. Die Kinder haben in der Regel keine Angst vor mir – ich habe ja eine echt coole Kamera für die Haut und die Kids können selbst am Bildschirm mitschauen. Der Junge zieht sich aus, wir schauen die Muttermale an. Alles in Ordnung. Er zieht sich an. Die Mutter nimmt ihn an die Hand. Wir verabschieden uns. Am Weg zur Tür fragt er seine Mutter: „Gehen wir jetzt zum Herrn Doktor?“ Der Blick seiner Mutter trifft meinen. Ich wäre jetzt gerne schlagfertig, aber mir fällt nichts ein. Die Tür fällt ins Schloss.

Kapitel 7 – Der alte Mann
Eine alte Bekannte meiner Eltern hat Geburtstag, sie wird 90 Jahre alt. Ich bin eingeladen. Und weil ich gerade Ferien habe, komme ich mit dem Bus von Graz. Bei der Feier in einem ziemlich heruntergekommenen Landgasthaus kenne ich fast niemanden, mir ist langweilig. Beim Verabschieden lerne ich den Bruder des Geburtstagskindes kennen. Auch er ist knapp 90 Jahre alt, ein stattlicher und sehr großer Mann. Er stellt sich mir vor, fragt was ich mache. Ich erzähle, dass ich in Graz Medizin studiere. Er schaut mich an, mustert mich, lächelt und flüstert mir ins Ohr: „Das ist sicher nicht einfach als Mädchen so groß zu sein. Aber du wirst sehen, das wird dir noch viel bringen. Du wirst ernst genommen werden, einfach nur, weil du groß bist und nicht untergehst. Du wirst wahrgenommen werden. Gerade in deinem Beruf wird dir das helfen.“ Ich bin sehr gerührt und drehe mich zur Seite um meine Tränen zu verstecken.

Mittlerweile bin ich stolz auf das, was ich beruflich erreicht habe. Ich habe viel dafür getan und mich zwischenzeitig damit massiv überfordert. Und jetzt bin ich Ärztin und Psychotherapeutin.

Kapitel 8 – Führungspersonen
Im Zuge der Allgemeinmedizin-Ausbildung machen wir einen Persönlichkeitstest. Der Coach bespricht mit mir mein Ergebnis. Er sagt, ich hätte die Persönlichkeitsstruktur einer Führungsperson. Ja, wow – e geil! Aaaaber, wenn ich dann doch mal Kinder haben sollte, geht Führungsperson-Sein, geht Primaria-Sein auch in Teilzeit? Kann ich dann in Karenz gehen und wieder zurückkommen? Keine Ahnung, ich kenne keine einzige Frau in solch einer Position!

Mein Partner und ich diskutieren und streiten immer wieder viel darüber. Conclusio: Kinder und Karriere, zumindest so wie ich mir das vorstelle (und das beinhaltet kein Primariat), werden sich auch mit viel Unterstützung nicht gleichzeitig ausgehen. Irgendwann werde ich zurückstecken müssen. Aber jetzt noch nicht!