Annas Geschichte

 

In der soeben gegründeten WhatsApp-Gruppe „Selbsthilfe HomeSchooling“ geht es rund. Die Themen: Umgang mit akuten mütterlichen Panikattacken, Rezeptvorschläge für leere Kühlschränke, gute Kinderserien mit sehr vielen Folgen, Sonderangebote für Alkohol im Supermarkt und Deeskalationsmethoden bei Halbe/Halbe-Diskussionen mit dem Partner.
Männer wurden der Gruppe bislang keine hinzugefügt. Warum eigentlich? Sie hätten zumindest in puncto schnell-wirkende Cocktailrezepte einige gute Ideen auf Lager. Denn: „It takes a village to raise a kid. It takes a distillery to homeschool one.“

Das Bildungsministerium versorgt uns mit anderen Tipps, um den Anforderungen des Distance Learnings gerecht zu werden. Wir hätten lieber eine Anleitung für „distance from learning“, aber das ist den obersten Bildungsbeauftragten naturgemäß egal. Also: „Wecken Sie Ihr Kind wie gewohnt auf. Behalten Sie auch Ihre Alltagsroutine bei (Duschen, Anziehen, Frühstücken etc.).“
An Frühstücken hätte ich ja gedacht. Aber Duschen? Im Ernst? Die Kinder auch?
Auch der Hinweis, für „separate, ruhige Arbeitsräume zu sorgen“, ist bei drei Kindern sehr hilfreich: Die Buben kommen in den Westflügel, das Mädchen in den Ostflügel und der Sozialraum für Putzfrau und Köchin wird mein neues Home Office.
Ehrlich: Haben diese Beamten in ihren Döblinger Villen irgendeine Ahnung von der Realität?

Die sieht nämlich so aus:
Unser Jüngster geht in die erste Klasse Volksschule. Wobei er bis jetzt noch nicht oft hingegangen ist. Und wenn er ausnahmsweise mal länger als zwei Wochen dort war, fragt er, wann er wieder „Urlaub“ hat. „Urlaub“ bedeutet für ihn die blaue Planmappe, die er zuhause abarbeitet. Natürlich mit unserer Hilfe, denn er kann noch nicht lesen und versteht die Anweisungen daher nicht. Das mit dem Lesen wird sowieso noch einige Zeit dauern, denn trotz Germanistikstudium weiß ich nicht, wie man Kindern beibringt, Buchstaben zu Silben und weiter zu Worten zusammenzuziehen:
Kind: „T—O—-P—F“
Mutter: „Richtig, und wie lautet das Wort?“
Kind: „Sofa?“
Sofa ist eines seiner Lieblingsworte. Wenn „WIR ESSEN AM SOFA“ im Leseheft steht, wird es von unserem findigen Kind als Argument genutzt, am nächsten Tag die Frühstückscerealien auf der Couch zu verteilen. Schulbuchautoren wissen nicht, was ihre Satzbeispiele innerfamiliär für Konflikte auslösen können.

Der Älteste hingegen geht erste Klasse Gymnasium. Auch er geht so selten, dass er sich beim letzten Mal am Hinweg in die Schule verirrt hat. Das war nicht weiter schlimm, denn die Lernbetreuung während des Lockdowns legte den Schwerpunkt hauptsächlich auf die Betreuung. Das Lernen holte er am Nachmittag am Küchentisch nach, der noch Rotweinlacken von der abendlichen Diskussion zwischen den überforderten Eltern aufwies. Um die Eselsohren in seinen Arbeitsblättern muss er sich angesichts der zahlreichen Rotweinflecken nun keine Sorgen mehr machen.

Die Tochter hat das E-Learning auf „Eh-Lernen“ umgestellt. „Lernst du?“ „Ja, eh!“
Und sie lernt wirklich, macht alle Sternchenaufgaben (Anm. für Menschen ohne Volksschulkinder: Zusatzaufgaben) und fügt noch fantasievolle Zierleisten hinzu, die detailreich die Märchen der Gebrüder Grimm erzählen. Wenn sie fertig ist, hilft sie mir beim Kochen.
Spätestens seit Lockdown 2 ist mir klar, dass die genderneutrale Erziehung nichts gebracht hat und wir ein braves, kooperationsbereites Mädchen und schlimme, sture Buben aufgezogen haben. Dabei bekommen sie von meinem Partner und mir eigentlich etwas völlig anderes vorgelebt.

Wir sind ein halbe/halbe Traumpaar: Wir arbeiten beide Teilzeit ohne Karriereaussichten, schaffen es beide nicht, die Kinder zu erziehen und vernachlässigen im gleichen Maße den Haushalt.
Ich hatte jedoch kein Problem, gänzlich auf Home Office umzustellen. Als Frau muss man sich ja um die Kinder kümmern. Die Firma meines Partners hingegen kämpft mit ihm um jede Stunde Büropräsenz. Die Tatsache, dass ich „auch“ arbeite und nicht 3 Kinder neben meinem Job in Mathe und Englisch unterrichten kann, wird verständnisvoll zur Kenntnis genommen. Er solle seine Kinder einfach ins Büro mitnehmen. Dann werde man sich abwechselnd um die Kleinen kümmern, wenn es die Mutter zuhause nicht schafft.
Wir haben große Lust, diesen Vorschlag anzunehmen. Vielleicht zeitgleich mit den anderen Mitarbeitern mit Kindern.
Die Absurdität dieses Vorhabens angesichts von Ausgangssperren, Mindestabständen, Betretungsverboten und überlasteten Intensivstationen, zu den Büroangestellten auch noch ein paar Kinder in die 80 qm Räumlichkeiten zu pferchen, hält uns aber zurück. Wir sind Bürger mit Eigenverantwortung.

Aber wer eigentlich noch?

Die Kindergärten und Nachmittagsbetreuungen sind bummvoll, da die verantwortungslosen Eltern nichts zur Bekämpfung der Pandemie beitragen wollen, tönt es aus den Medien. Kleines Detail am Rande: Gestern bekam ich die Beitragsvorschreibung für Jänner. Sie enthielt den vollen Betrag inklusive Essensgeld. In Lockdown 3 werden die Elternbeiträge nämlich nicht vom Land übernommen. Wir sollen voll zahlen, aber die Kinder zuhause behalten, worunter nicht nur Beruf und Nerven der Erwachsenen, sondern auch Sozialisierung und Bildung der Kinder leiden. Jedes Unternehmen bekommt Fixkostenzuschuss und Umsatzersatz. Wieso nicht auch Familien? Welcher Trottel kommt auf die Idee, für den Kindergarten zu kassieren und gleichzeitig zu schimpfen, wenn man die Kinder hinschickt?

Der Wutbürger in mir wird wach. Ich verfasse einige Mails an die politischen Verantwortlichen und fühle mich danach besser. Gleichzeitig regt sich ein schlechtes Gewissen. Darf ich mich denn überhaupt so aufregen? Wir leben privilegiert in einer großen Wohnung mit Garten, haben keinen finanziellen Engpass, unsere Kinder sind weder Legastheniker noch verhaltensauffällig und wir sind zu zweit. Ich versuche mich kurz in eine Alleinerzieherin mit Migrationshintergrund, fünf Kindern, einer 50qm Wohnung und einem Job im Lebensmittelhandel hineinzuversetzen, komme allerdings nur bis „Alleinerzieherin“ und erleide eine Panikattacke.
Mein Partner ist nämlich gerade im Büro und ich zähle die Minuten, bis er endlich zur Tür hereinkommt. Den Kindern ist unendlich fad. Während ich versuche, Emails zu schreiben, quengeln sie nach ihren Freunden und Klassenkameraden.
In der bereits genannten WhatsApp-Gruppe werden Pläne für ein großes Come-Together nach dem Lockdown geschmiedet. Wann das sein wird, weiß im Moment keiner. Und ob die Kinder dabei sein werden, auch nicht. Denn das hängt davon ab, ob sie nach dem Lockdown nicht bereits voll in der Pubertät stecken und keine Lust mehr haben, ihre Mütter zu solchen Treffen zu begleiten. Man einigt sich darauf, ihnen in diesem Fall eine ruhige Ecke im Garten zur Verfügung zu stellen, von der aus sie biertrinkend und rauchend ihre Eltern peinlich finden können.
Die Aussicht auf eine solche Veranstaltung in ferner Zukunft stellt meine Kinder nicht zufrieden. Sie wollen jetzt sofort mit anderen spielen. Ich habe die Übersicht verloren, wie vielen Personen aus wie vielen Haushalten man sich zurzeit nähern darf, ohne gegen ein Epidemiegesetz zu verstoßen. Aber es ist im Grunde genommen egal. Für jedes Kind ein Spielkamerad geht sich bestimmt nicht aus. Jemand aus der Gruppe schlägt vor, in unserem Garten einen Schilift zu errichten, dann könne man sich trotz Ausgangssperre legal treffen. Beim Schiliftbauen würden alle helfen, für die Arbeit darf man das Haus schließlich verlassen.

Meine größte Schwierigkeit bei einem derartigen Andrang helfender Hände wäre definitiv die Verpflegung. Das „Was koche ich morgen“-Problem würde um eine Dimension erweitert.
Da bei uns normalerweise wochentags alle außerhalb essen, komme ich ganz gut mit Nudeln am Samstag und einmal „gescheit“ Kochen am Sonntag durch. Seit Corona heißt es allerdings täglich mindestens eine warme Mahlzeit für fünf Personen, von denen drei über einen ziemlich eingeschränkten Geschmackshorizont verfügen. Keine Zwiebel, kein gekochtes Gemüse, nichts Kerniges, nichts Gatschiges, nichts Scharfes, nichts Rotes, nichts Dreieckiges und auf keinen Fall irgendetwas, das man nicht kennt. Und vor allem: keine Nudeln mehr. Ich hätte mir niemals gedacht, „nicht schon wieder Nudeln“ aus dem Mund eines meiner Kinder zu hören. Aber nun ist es so weit, Lockdown Nummer 3 hat es geschafft. Abwechslung muss her und für diese habe ich zu sorgen. In puncto Essenszubereitung verschiebt sich das Halbe/Halbe bei uns nämlich zu einem 6:1. Natürlich in meine Richtung.
Das liegt allerdings nicht an den Kochkünsten meines Partners, die als solide, wenn auch nicht als abwechslungsreich beschrieben werden können. Etwas Nicht-Dreieckiges ohne Zwiebeln und Rottöne bekommt er im Gegensatz zu mir immer hin. Das Problem bei ihm ist eher der Zeitpunkt. Ich beginne zu kochen, wenn die Kinder Hunger haben. Er beginnt zu kochen, wenn er Hunger hat, was aufgrund des divergierenden Stoffwechsels von Unter-10jährigen und Über-40jährigen meist zwei Stunden zu spät ist. Die Kinder haben dann bereits den Kühlschrank geplündert, mit den Nutellabroten etliche Kollateralschäden auf Esstisch und Fußboden verursacht und definitiv keinen Hunger mehr auf Spinat und Spiegelei.
In meiner Rolle als Alleinverantwortliche für die Truppenverpflegung begebe ich mich auf eine Odyssee durch Kochforen, Foodblogs und downloadbare Menüpläne, die seit Corona das Internet fluten. Ich verzweifle zusehends, da sich jedes noch so ausgefallene Gericht ohne Zwiebel, gekochtes Gemüse, Kerniges, Gatschiges, Scharfes, Rotes und Dreieckiges auf Reis, Kartoffeln oder Nudeln reduziert. Danke, das gab es schon gestern.
Ich beschließe, die Lösung des Essensproblems an die Verursacher outzusourcen. Und siehe da, die Kinder erstellen den Wochenplan innerhalb weniger Minuten: Dreimal Pommes, zweimal Pizza (aber bitte bestellt und nicht selbst gemacht), einmal Palatschinken vom Papa und am Sonntag wollen sie Buchteln von der Oma.
Ich streiche zweimal Pommes und ersetze sie durch TK-Marillenknödel wegen der Vitamine im Obst. Wir garantieren der Oma kontaktlose Abholung der Buchteln und nächste Woche gibt es das Ganze in umgekehrter Reihenfolge. Man wird pragmatischer in so einem Lockdownjahr.

Auch die Online-Besprechungen diverser Familienmitglieder werden nun viel schmerzbefreiter abgehandelt. Wir sind ein perfekt eingespieltes Team, wenn es um das Vortäuschen harmonischer Familienverhältnisse vor der Webcam geht. Egal welches Meeting stattfindet, die ganze Familie kleidet sich hüftaufwärts adrett, man weiß ja nie, ob man nicht doch ins Bild gerät. Hat mein Partner ein wichtiges Kundengespräch via Zoom, kämmt sich meine Tochter sogar die Haare und ich trage eine Baseballkappe. Der letzte Friseurbesuch ist schon zu lange her, als dass ein Kamm hier etwas ausrichten könnte.
Wenn der Große seine Englisch-Vokabelprüfung online absolviert, sitzt die ganz Familie mit seinen Lernkärtchen um den Tisch und versucht, das passende Kärtchen schnell genug in sein Blickfeld zu schieben.
Dafür revanchiert er sich bei meinen Meetings, indem er mir liebevoll eine Tasse Tee neben die Tastatur stellt. Dass er sich dabei mein Handy vom Schreibtisch schnappt, um für die nächste Stunde ungestört Supermario darauf zu spielen, sehen meine Arbeitskollegen nicht. Die Tochter wimmelt unterdessen den Briefträger ab, der einen RSA-Brief zustellen will: Die Mama ist gerade in einer wichtigen Besprechung, aber sie holt das Dokument gerne morgen von der Post ab, auch wenn sie sich dort den halben Tag in der Amazon-Retouren-Schlange anstellen muss. Denn dann kann die Madame mit ihren Brüdern eine Zeitlang unbeaufsichtigt Youtube-Videos schauen.
Während ich in der Pyjamahose dem Briefträger bis auf die Straße nachlaufe, unterhält der Kleinste die versammelte Mannschaft am Monitor mit lustigen Anekdoten aus dem Alltag seiner Eltern („Mir geht’s super, aber dem Papa nicht, weil die Mama schon wieder seine Socken anhat.“) Dabei will mein Partner in meinem Berufsleben eigentlich gar nicht in Erscheinung treten. Seit er aus Versehen zwei, drei Mal mit nacktem Oberkörper quer durchs Bild gelatscht ist, versucht er übers Bett unter dem Blickradius der Laptopkamera hinweg zum Kleiderschrank zu turnen, was ihm mittlerweile sehr gut gelingt. Zu meinem Glück kann er sich noch Tage später an die wichtigen Aufträge meines Chefs erinnern, die ich nicht notiere, weil ich damit beschäftigt bin, meine Füße und vor allem die Socken, in denen sie stecken und nach denen er verzweifelt sucht, irgendwie unter meinen Oberschenkeln zu verbergen.
Ich hätte im Dezember, als der Handel kurz fürs Weihnachtsgeschäft öffnete, um am Heiligen Abend wieder zu schließen, die Chance ergreifen und mir die gleichen Socken kaufen sollen. Sie tragen sich wirklich gut. Leider kann ich sie online nicht bestellen. Wie so manch anderes. Karteikärtchen für Englischvokabel zum Beispiel. Die hat Amazon zwar im Sortiment, 100 Stück um läppische 1,20 €. Die Versandgebühr beträgt dann allerdings 4,80 €, wenn man nicht monatlich 8,00 € zahlt, um keine Versandgebühr zu bezahlen. Und selbst bei Gratislieferung: Ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass meine Karteikarten im Wert von 1,20 € verpackt, verladen, aus Deutschland angekarrt, verteilt und von Postboten zugestellt werden, die allein für den Weg zu uns ins Dachgeschoß ohne Lift mehr Kalorien verbrauchen, als eine Wurstsemmel hat, die definitiv mehr kostet als 1,20 €.

Ich bin grundsätzlich ohnehin eher konsumkritisch eingestellt. Umso überraschter war ich, als ich mir das letzte Mal im Drogeriemarkt ein Paar blickdichter Seidenstrümpfe zugelegt habe. Ich weiß nicht genau, was mich dazu bewogen hat. Ich trage keine Seidenstrümpfe. Aber wahrscheinlich war der Wunsch, etwas zu kaufen, das nicht lebensnotwendig ist und das man nicht essen kann, einfach übermächtig. Ich werde sie beim nächsten Online-Meeting unter oder statt der Pyjamahose anziehen. Und laut Whatsapp-Gruppe kann man damit auch Fenster putzen.

Covid-19 zwingt uns alle dazu, Abstriche zu machen. Nicht nur in den Teststraßen. Meine kinderlose Singlefreundin zum Beispiel kennt weder Probleme im Homeschooling, noch bei der partnerschaftlichen Verteilung der Kinderbetreuung. Dafür hatte sie seit Sommer keinen Sex mehr. Wenn die Pandemie noch weiter andauert, wird der One-Night-Stand im Duden unter „veraltet für spontaner Geschlechtsverkehr zwischen zwei nicht in einem Haushalt lebenden Personen, die sich erst kurz zuvor ohne MNS mehr als 2 Meter angenähert haben“ firmieren. Und für „Safer Sex“ reicht das Kondom schon längst nicht mehr aus, sondern der höchstens 48 Stunden alte Nasenbohrertest gehört genauso dazu.
Um für die Zeit nach Corona vorzubauen, datet meine Freundin mittlerweile pandemie-konform am Nachmittag im Park auf zwei Picknickdecken, mit zwei Flaschen Sekt und einem auf halb acht gestellten Handywecker, damit sie beim Versuch, sich mit den Augen hinter Daunenjacke, Haube, Schal und MNS zu wühlen und dort den grinsenden Beachboy mit dem Sixpack vom Tinder-Foto zu finden, die Ausgangssperre nicht vergisst. Seit sie es bei einem solchen Treffen trotz Mundnasenschutz geschafft hat, ihre Flasche Sekt binnen 30 Minuten leer zu trinken, weiß sie, woher der Ausdruck „einen hinter die Binde kippen“ kommt.

Wie gut geht es einem da als eingespieltes Paar, auch wenn wir im Lockdown auf den Quickie zwischen „ab in die Schule“ und „ab ins Büro“ verzichten mussten, weil das „ab in“ durch ein ewig scheinendes „da“ ersetzt wurde. Nach einer gewissen Zeit konnten wir dafür aber ziemlich gut ab- und vor allem wertschätzen, wie viel Zeit eine Folge „Pippi Langstrumpf“ fürs Vorspiel lässt.

Ich bin übrigens Fan der FFP2-Masken, abseits vom Sex natürlich. Leider dürfen Kinder noch immer mit diesem unsäglichen selbstgenähten Mund-Nasen-Schutz herumlaufen. Konnten Eltern vor Covid nur einmal jährlich ihre Kreativität und ihr handwerkliches Geschick präsentieren, nämlich bei Herstellung der Geburtstagseinladung für die Kinderparty, haben sie nun täglich Gelegenheit dazu. Löwen, Elfen, Picassos, nachhaltige Biobaumwoll-Kreationen und sämtliche Auswüchse der Walt-Disney-Merchandisingindustrie werden zwischen die Ohren der Kinder gespannt, um den ausgeprägten Sinn der Eltern fürs originelle Design zu untermauern. Naja, wahrscheinlich spricht aus mir nur der Neid und das schlechte Gewissen, weil meine drei mit vernudelten Lappen aus alten Stoffwindeln im Gesicht herumlaufen mussten.
Zum Glück beschloss der Jüngste irgendwann aus Verzweiflung, seinen Schlauchschal multifunktionell einzusetzen, was von den Lehrern akzeptiert und von seinen Geschwistern übernommen wurde. Damit war meine MNS-Misere behoben.

Mittlerweile ist es Ende März 2021. Die Zeitumstellung hat uns eine Stunde mehr geschenkt, in der wir nichts tun dürfen. Ich will Urlaub machen, neue Leute kennen lernen, auf der Hochzeit meines Bruders tanzen, für meine Kinder Geburtstagspartys organisieren (mit sehr originellen Einladungen) und sie danach alle drei zur Oma abschieben, damit ich mich vom Stress erholen kann. Aber all das geht nicht.

Gefühlt befinden wir uns seit einem Jahr in einem permanenten Lockdown, der nun nicht mehr als Lockdown bezeichnet wird, sondern als „Osterruhe“ mit geschlossenen Geschäften und Schulen. Sie wird wohl bald in eine Frühlingspause, eine Pfingstauszeit sowie eine Fronleichnamsstarre übergehen. Dass „die nächsten zwei Wochen die entscheidenden sind“, erzählt der Gesundheitsminister alle 14 Tage und beim „Licht am Ende des Tunnels“, das uns der Bundeskanzler so oft verspricht, denke ich mittlerweile eher an eine Nahtoderfahrung.

Mein Jüngster hat es letztens recht gut auf den Punkt gebracht, als er mich fragte, wann wir seinen Kindergeburtstag nachfeiern. „Wenn Corona vorbei ist“, sagte ich. „Mama, Corona ist doch immer!“, sagte er. Ein Sechstel seines Lebens hat er bereits mit Abstand, Maske und eingeschränkten Kontakten verbracht. Da ist die Ewigkeit nicht mehr weit.

Bei den Öffnungsschritten wird von der Gastronomie und dem Handel gesprochen, nicht von den tausenden Kindern in weiterführenden Schulen, die an drei von fünf Schultagen zuhause lernen. 10-Jährige müssen den ganzen Tag mit FFP2-Masken in der Klasse sitzen, während Angestellten nach drei Stunden eine Maskenpause zugestanden wird. Manager halten ihre Meetings in geschlossenen Innenräumen ab, Jugendlichen aber wird verboten, sich im Freien zu treffen.

Die neue Normalität ist längst in unserem Leben angekommen und vieles ist im Neuen noch „normaler“ geworden. Es ist wieder normal, dass Kinder und Haushalt Frauensache sind; es ist normal, dass die Alten weggesperrt und isoliert werden; es ist normal, dass Familien mit ihren Problemen alleingelassen werden, während sich die Wirtschaftslobby mit ihren Forderungen durchsetzt; es ist völlig normal, dass Kinder keine Rechte, keine Stimme haben.

Das Virus hat das System durcheinandergebracht. Das System hat reagiert und Strukturen wieder verfestigt, die dank Emanzipation und Aufklärung schon zu bröckeln begonnen haben.
Auch in der WhatsApp-Gruppe beginnt die Empörung über Maßnahmen und Ansagen der Politik zu verebben. Wir posten mittlerweile Meditationsübungen und Katzenfotos. Die Pandemiemüdigkeit hat viele Facetten.
Ich will angesichts der letzten Monate über den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit, den Sinn von permanentem Wachstum, Konsumzwang und das komplett veraltete Bildungssystem diskutieren. Aber ich habe den Kopf nicht dafür, weil ich Bruchrechnungen erkläre, Frühlingsmandala ausdrucke und mit einem Kunden telefoniere, während ich Karotten schäle. Und warum? Weil ich eine Frau bin? Ist das ein Frauenproblem wie PMS oder Hitzewallungen im Klimakterium?
In der neuen Normalität wird es auf diese Frage keine Antwort geben. Deshalb kommt sie mir nicht ins Haus. Da ist mir der ganz normale Wahnsinn lieber.