Anna

Studentin, 23, selbstständig, Aktivistin bei Catcalls of Graz, Sachbearbeiterin im Referat für feministische Politik der ÖH Uni Graz


Frau im Haus
Ich schneide das bedruckte Papier auseinander, auf dem steht

  • 30 Grad dunkel: dunkle Hemden, T-Shirts, Hosen, Jeans
  • 30 Grad hell: helle Hemden, helle Shirts, Sommerhosen hell
  • 30 Grad weiß: NUR WEISSE HEMDEN!
  • 60 Grad: Unterwäsche, Handtücher, Geschirrtücher, Bettwäsche; nach Farben sortieren und waschen.

Gleich zwei Mal habe ich die Anweisungen ausgedruckt, einmal klebe ich den Zettel mit Tixo auf die Seite der Waschmaschine, einmal lege ich den Zettel obendrauf. Zur Sicherheit.
Meine Mama ist von daheim ausgezogen, als ich gerade im Ausland gearbeitet habe. Damals war ich zwanzig Jahre alt. Ich bin Anfang März zurückgeflogen, von Sri Lanka über Zürich nach Wien, wurde dort abgeholt und in mein Heimatdorf chauffiert. Als ich mein Elternhaus seit dem Auszug meiner Mutter zum ersten Mal betrat, wurde mir das unsichtbare Kleid mit dem Namen „Frau im Haus“ angezogen. Es folgten Monate voller Geschirrspülereinräumen, Geschirrspülerausräumen, Wäsche waschen, Hemden bügeln, Essen kochen, Knopfannähen, Hausrat räumen, Knopfannähen, Essen kochen, Hemden bügeln, Wäsche waschen, Geschirrspülerausräumen, Geschirrspülereinräumen. Besonders geschockt war ich, als mein Vater mich zum ersten Mal fragte, wie man(n) diesen denn einschaltet. Damals war ich zwanzig Jahre alt.
An den Wochentagen war ich in Graz, zum Studieren. An den Wochenenden war ich in meinem Heimatdorf, zum Haushalten. Mit Versuchen wie gedruckten Anweisungen zum Wäschewaschen für den Mann wollte ich meine zunehmende Erschöpfungsdepression niederhalten.
Eine Frage, die mich – zugegebenermaßen nicht nur seither, sondern schon mein ganzes Leben lang und immer noch – beschäftigt: Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich ein Sohn wäre?


Weihnachten bei Oma

Jedes Jahr zu Weihnachten. Jedes Jahr zu Weihnachten sind wir bei meiner Oma. Und jedes Jahr zu Weihnachten stehen wir um einen, im Stil der Achtziger dekorierten, mit viel zu viel Engelshaar überladenen Weihnachtsbaum herum, der von meiner Tante aus Graz geschmückt wurde. Jedes Jahr zu Weihnachten brennen darauf dutzende Kerzen, die meine andere Tante kurz davor mit geübten Bewegungen angezündet hat. Und jedes Jahr steht am Boden neben dem Weihnachtsbaum ein Kübel mit Wasser bereit, für den Ernstfall. Der wurde von meiner Cousine nur wenige Minuten zuvor gefüllt.
Jedes Jahr zu Weihnachten singen wir die gleichen vier Strophen Stille Nacht, heilige Nacht. Und jedes Jahr zu Weihnachten gibt es danach die Bescherung, dann wird gemeinsam gejausnet. Wie jedes Jahr zu Weihnachten bringt meine Tante aus Graz einen Sandwichwecken vom Sorger mit. Der Tisch ist viel zu voll mit eingelegtem Gemüse, Käsevariationen und Wurstplatten, die meine andere Cousine am Nachmittag vorbereitet hat.
Jedes Jahr zu Weihnachten sind es die Frauen, die, sobald alle fertiggegessen haben, vom Tisch aufstehen. Um ihn abzuräumen. Jedes Jahr. Jedes Weihnachten. Meine Mutter, meine Schwester, meine Cousinen, meine Tanten, die Freundin meines Cousins, ich. Jedes Jahr zu Weihnachten bleiben die Männer am Tisch sitzen.

Ich muss gestehen, ich bin erleichtert, dass diese sich immer wiederholende Reproduktion der veralteten Rollenbilder in den letzten zwei Jahren pandemiebedingt pausiert wurde. Weihnachten feiern wir nicht mehr bei Oma. Der Tisch wird nicht mehr im großen Stil von allen Frauen abgeräumt. Dennoch werde ich Weihnachten immer mit dieser Tradition assoziieren. Und diese Tradition wird mir für immer negativ in Erinnerung bleiben.
Es ist nicht so, dass ein Verhalten wie dieses bei anderen Familienfeiern nicht erwünscht und erwartet wird. Wird es. Aber zu Weihnachten fühlt sich dieses Drängen in altmodische Rollenbilder besonders schmerzhaft an. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso ich Weihnachten überhaupt nicht mag. Wenn es nach mir ginge, könnte man diesen Tag einfach aus dem Kalender streichen.
Das Abräumen des Tisches zu Weihnachten mag wie eine Kleinigkeit klingen. Etwas, das frau ja ohne zu sudern schnell einmal erledigen kann – um den Weihnachtsfrieden zu wahren.
Aber das Abräumen des Tisches zu Weihnachten steht stellvertretend für das offensichtliche, selbstverständliche Drängen in altmodische Rollenbilder. Alle Frauen tun still, was ihnen wortlos aufgetragen wurde.
Weihnachten bei Oma hat eine eigene Dynamik entwickelt, aus der wir Frauen so schnell nicht mehr herauskommen. Aus der die Männer nicht mehr herauswollen. Für die ist es ja bequem.
Das Schlimmste dabei ist das Gefühl der Machtlosigkeit, verstärkt durch den zu wahrenden Weihnachtsfrieden. Würde ich auch nur eine Anspielung auf die ungerechte, ungleiche Arbeitsverteilung an Weihnachten machen, würde ich einen Tritt unter dem Tisch von meiner Mutter, ein Schnaufen und einen bösen Blick von meinem Vater, einen höhnischen Lacher von meinem Onkel und Ignoranz vom Rest ernten.
Also schweige ich.


Maturaball

Ein damals guter Freund von mir, mein Sitznachbar aus der Klasse, nimmt mich nach meiner Ansprache während der Maturaballvorbereitungen zur Seite. Ich erinnere mich nur zu gut an seine Worte: „He Anna, was soll das? Du hast dich so verändert. Du bist so unfreundlich geworden. Und das finde nicht nur ich, sondern auch der Lorenz, der Samuel, der Luis, und alle anderen. Die sagen das auch.“
Ich spüre einen Stich im Herz und wie mir Tränen in die Augen steigen. Schnell drehe ich mich um und haste ins nächste WC. Dort komme ich erst gar nicht dazu, durchzuatmen, sofort strömen mir Tränen aus den Augen und laufen mir heiß über die Wangen. Wie ein Wasserfall heule, heule und heule ich. Bestimmt fünf Minuten lang.
„War ich denn wirklich so unfreundlich? Das passt ja gar nicht zu mir. So möchte ich nicht sein!“, denke ich mir, und schon wieder muss ich weinen. Meine Augen schmerzen mir eh schon vom vielen Zudrücken und Hinwegsehen über die unordentliche Arbeitsweise meiner phlegmatischen Mitschüler*innen. Wie es zu dem Kommentar gekommen ist, der mir ein Stück Herz gebrochen hat?
Als eine von drei Leiter*innen im Maturaballkomitee habe ich nach mühsamen Stunden voller Ineffizienz und Demotivation meiner zu leitenden Personen, ergo Mitschüler*innen, eine kurze Ansprache gehalten, in der ich ihnen klare Anweisungen für die kommenden Tage gab und sie mit Bestimmtheit daran erinnerte, dass wir nicht nur aus Jux und Tollerei eine Turnhalle schmückten, sondern tatsächlich eine Veranstaltung für fast 2.000 Besucher*innen auf die Beine stellten. Die Ansprache war die Folge von stundenlangem Pause-Machen, gepaart mit permanenter Smartphone-Nutzung und einer egoistischen, enorm niedrigen Arbeitsmoral der jungen Erwachsenen.

Der Kommentar meines Sitznachbarn hat mir ein kleines Stück Herz gebrochen. Das Stück Herz, das daran geglaubt hat, dass eine Frau*, selbst unter Stress, Druck und mit hoher Verantwortung, immer freundlich und zuvorkommend zu sein hat. Das Stück Herz, dass daran festgehalten hat, dass Frauen* in Führungspositionen zwar den Ton angeben können, aber der ist sanft und liebevoll. Das Stück Herz, dass mich in dem Moment dafür hasste, nicht die herzliche, liebe, kompetente, stressresistente, tonangebende, aber verständnisvolle Maturaballleiterin zu sein. Sondern eine junge Frau, deren Anweisungen scharf sind und deren Verständnis begrenzt ist für ihre Mitschüler*innen, die permanent mit ihren Smartphones anstatt mit den Vorbereitungsarbeiten beschäftigt sind.
Ich wasche mir das Gesicht, tupfe es mit Papierhandtüchern trocken und versuche so gut wie möglich meinen Gefühlsausbruch zu verbergen. So emotional möchte ich dann auch wieder nicht wirken – denn dafür werden Frauen* in Führungspositionen ja bekrittelt.
Heute würde ich behaupten, mich hat damals eine doppelte Verantwortung getroffen: Einerseits die Verantwortung, alle Aufgaben erfolgreich, wirtschaftlich sinnvoll, effizient, gut und richtig zu erledigen. Andererseits die Verantwortung, all die Aufgaben mit einem Lächeln im Gesicht und einem sanften Ton in der Stimme zu erledigen – von meinem Umfeld auferlegt, versteht sich. Meine männlichen Kollegen im Team hatten ausschließlich erstere Verantwortung zu tragen. Meine weiblichen Kolleginnen im Team haben, zumindest teilweise, ausschließlich die zweitere wahrgenommen. Übel nehme ich es ihnen nicht.
Jahre später erinnere ich mich an die Situation zurück und kann sie endlich einordnen. Ich mag vielleicht unfreundlicher als mein alltägliches, entspannteres Ich gewesen sein, aber ganz sicher nicht unfreundlicher als meine männlichen Kollegen. Für eine minderjährige, unerfahrene Frau habe ich ausgezeichnete Arbeit geleistet. Der Dank war ein unterschwellig sexistischer Kommentar zu meiner Umgangsweise, der sich tief eingebrannt hat, und an den ich jedes Mal erinnert werde, wenn ich einen schärferen, bestimmenden Ton anschlage, anstatt mit zuckersüßer Mäuschenstimme zu sprechen. Aber die hatte ich eh noch nie.