Lucias Geschichte
Zeit
Gerade hatte ich mit meinem neuen Studium begonnen und somit mit dem ersten, das ich auch fertig studieren wollte. Der Jänner, also der Prüfungsmonat des Wintersemesters war sehr stressig, oder ich war schlecht organisiert, oder beides. Ich entschied mich die Prüfung meiner Lieblingsvorlesung erst einen Monat später zu schreiben, um auf eine Eins lernen zu können. Daher verbrachte ich den Februar mit Vorlesungsunterlagen an meinem Schreibtisch und ständiger Untermalung durch Orchestermusik, meist Peer Gynt. Wenn die Motivation mich verließ, versuchte ich zu entscheiden, welche Lehrveranstaltung ich im glänzenden, neuen Semester belegen würde und damit Pläne für ein besseres Zeitmanagement zu kreieren. Viele meiner Mitstudierenden teilen die Leidenschaft für das Zusammenstellen neuer Stundenpläne für kommende Semester.
Dann kam die Prüfung, tatsächlich an der Uni, im UR 33.1.010, falls das jetzt jemandem etwas sagt, ich mag diesen Raum nicht besonders, aber ich mag Raumnummern und erkenne die wichtigen Räume auch an ihrer Nummer… das waren Zeiten.
Dann kam das Semester, an der Uni, es war aufregend. Werde ich einen Fixplatz für den Kurs erhalten? Wird meine Note von der letzten STEOP-Prüfung noch rechtzeitig eingetragen, sodass ich nicht vom System von meinen Kursen abgemeldet werde, weil ich schon zu viele Lehrveranstaltungen abgeschlossen habe, ohne diese bestimmte Prüfung positiv absolviert zu haben?
Alle hatten es schon befürchtet, aber vorbereitet war niemand. Ich muss zugeben, ich habe nicht befürchtet, dass die Uni zusperren muss, aber es wurden Scherze darüber gemacht. Manche haben sich wohl gewünscht, dass der Unterricht entfällt.
Das erste Mal Einkaufen am Tag, nachdem die Uni bekanntgegeben hatte zuzusperren, das letzte Mal Einkaufen vor dem Grauen-Einheitsbrei. Es war ein apokalyptisches Erlebnis. Es gab nur noch Tortellini mit Käsefüllung, wer mag das schon. Ja und dann habe ich eigentlich nichts mehr zu erzählen. Es war eben der graue Einheitsbrei des Grauens, des Stresses, der noch unerledigten Hausaufgaben und der überbordenden ToDo-Listen. Mit der Hoffnung, man hätte ein paar Wochen Ferien, wenn die Universitäten geschlossen werden, hatte es sich schnell erledigt. Meine neuen Zeitmanagement-Pläne wurden auch bald nicht mehr beachtet, denn ich fühlte mich sehr unsicher zu dieser Zeit, die Konstante, die Uni war wie aufgelöst und existierte nur noch virtuell. Nach dieser Anfangszeit im Online-Unterricht konnte ich während des gesamten Semesters meinen Rückstand bei der Arbeit nicht aufholen.
Die Lehrenden an der Universität glaubten offenbar, die Student*innen haben nun ohnehin so viel Zeit, nicht dass ihnen noch langweilig wird. Da muss man einfach etwas mehr Stoff machen, als sich ausgeht, wenn man die Vorlesung in Präsenz in diesen knappen 1,5 Stunden halten muss. Es ist nämlich tatsächlich so – und das bestätigen mir auch meine Freunde*Freundinnen, dass man jetzt für die Ausarbeitung einer Vorlesung (im Format PPP mit Audioaufnahmen), die normalerweise in 1,5 Stunden abgehalten wird, nicht selten in etwa vier Stunden braucht. Das liegt daran, dass man jetzt die Möglichkeit hat sich alles öfter anzuhören und zu pausieren. Da man keine wichtigen Inhalte verpassen will, transkribiert man also mehr oder weniger ganze Vorlesungen. Klarerweise kommt es hier im Einzelfall auf die Vortragenden und Studierenden an, aber vier Stunden ist eine Zahl, die ich öfter höre. Manche Lehrenden dachten vielleicht auch: Es ist ohnehin besser, wenn die Student*innen sich die Inhalte selbst erarbeiten, da behalten sie sich vielmehr davon. Gerade im ersten Online-Semester gab es nämlich durchaus Vorlesungen, die aus PPP ohne Audiokommentar und einer Liste prüfungsrelevanter Pflichtlektüre bestanden – die Prüfung zu dieser Vorlesung habe ich mir nicht angetan, sondern erst im Folgesemester, als Audioaufnahmen dazukamen. (Mir ist natürlich bewusst, dass die Lehrenden es uns nicht schwerer machen wollten, sondern nicht genau wussten, wie man am besten online unterrichtet.)
Es ist vielleicht nicht wenig verwunderlich, dass meine Gefühle denjenigen gegenüber, die diese Zeit als angenehmes Beisammensein mit der Familie erlebt haben, durchaus negativ sind. Ich war oft sehr hasserfüllt, wenn ich auf Instagramm ein Foto gesehen habe, auf dem jemand zeigt wie großartig und entspannend sein*ihr neues Hobby, das Backen ist. Ich wollte mein Handy anschreien, wenn mir in einer Werbung wieder einmal vorgeschlagen wurde die Zeit zu nutzen, um eine neue Sprache zu lernen. « Non, je ne fais rien d’autre qu’apprendre des langues ! C’est mon travail ! »
Während des Sommers war das Warten auf Informationen bezüglich der Universitäten sehr interessant, oder mehr: alles andere als interessant. Vermutlich ist es den wenigsten aufgefallen, die nicht studieren, oder an einer Universität arbeiten, denn es gab nichts zum Auffallen.
Irgendwann kam dann doch die Nachricht, dass das Wintersemester 20/21 mit Präsenzlehrveranstaltungen beginnen kann. Die Stimmung hatte sich geändert, alle freuten sich über die Möglichkeit an die Uni zu kommen, aber niemand glaubte, dass es auf Dauer möglich sein würde. Zumindest hatte man die Möglichkeit, neue Lehrende einmal in echt zu sehen. Es war eine Zeit, in der ich wirklich ein richtiges Hoch erlebt habe. Es war das Schönste, ein bis drei Mal am Tag mit dem Rad zur Uni und wieder zurück zu fahren.
Mit der völligen Umstellung zurück auf Distanzunterricht habe ich bemerkt, wie viel schwieriger es mir fällt, mich in Online-Kursen zu melden. Die Überwindung, die ich brauche, bevor ich das Mikrofon einschalten kann, um etwas zu sagen, ist sehr groß. Selbst wenn ich sicher bin, dass meine Antwort stimmt, schaffe ich es oft nicht sie zu sagen. Das ist aber das einzige Problem, das ich auch jetzt noch mit dem Online-Unterricht habe. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Lob an alle meine Lehrenden aussprechen, weil ich nicht glaube, dass meine Bildung unter den Umständen leidet. Ich denke die Lehrenden wie die Studierenden haben sich an die neuen Umstände gewöhnt und kommen zumindest mit ihren Endgeräten und den Programmen immer besser zurecht. Manchmal ist es fast schade, dass es immer seltener passiert, dass Lehrende unabsichtlich doppelt in ihrem Kurs sind, sodass man zwei Mal das exakt gleiche Bild seiner Lehrperson am Bildschirm hat, oder dass eine Person im Kurs ist, ihre Kamera einschaltet und einfach auf dem Kopf steht – das Bild war einfach gedreht. Es war zum Zerkugeln lustig. Weniger lustig ist es jedoch, wenn die Internetverbindung schlecht ist und man nichts mehr versteht.
Jetzt, im Sommersemester ’21 gibt es zum ersten Mal nichts Neues. Mit dem zweiten Studium, das ich abschließen möchte, bin ich jetzt im zweiten Semester und der Online-Unterricht ist eben wie im letzten Semester. Man könnte fast schon sagen, dass sich das Studieren auf diese Weise für mich schon normal anfühlt. Ich weiß aber, dass es vielen mit der Situation nicht gut geht und dass viele immer unmotivierter werden, sich mit der Arbeit für die Uni zu beschäftigen. Auch einer meiner Lehrenden meinte in der ersten Einheit, es sei nun im dritten Semester schon „sehr zermürbend“, immer im Distanzmodus zu sein.
Was wohl die Nachbarn denken?
Seit einiger Zeit verbringen die meisten von uns sehr viel Zeit zuhause. So sind auch ich und meine Mitbewohnerinnen viel zuhause. Wir wohnen in einem Haus, das nach dem zweiten Weltkrieg offenbar mit extra dünnen Wänden wiederaufgebaut wurde. So dünn, dass wir schon das Gefühl haben, eine intime Verbindung zu unseren Nachbarn zu haben, obwohl wir manche noch nie gesehen haben.
Einmal gibt es eine nette kleine Familie in der Wohnung schräg unter uns. Die sehen wir am öftesten, aber wir hören sie am seltensten. Nur wenn die Kinder schreien, was natürlich immer wieder vorkommt, bekommen wir das mit. Zum Leidwesen meiner Mitbewohnerin kommt das auch nachts oft vor.
Im Haus gegenüber gab es eine alte Frau, die immer im Freien geraucht hat und einen sehr ungesund klingenden Husten hatte. Seit einiger Zeit hört man sie nicht mehr, wir hoffen, sie ist nur umgezogen. Vielleicht ist es ihr auch nur zu kalt geworden draußen und sie kommt im Sommer wieder zum Rauchen vor die Türe.
Vor dem Haus gegenüber hat sich einmal eine aufregende Geschichte abgespielt. Meine Mitbewohnerin hat aus dem Fenster geschaut, weil sie befürchtete ihr Rad würde gestohlen. Tatsächlich war es aber nur ein sehr betrunkener Herr, der sich an den Rädern festgehalten hatte, bevor er im Stehen eingeschlafen und auf die Straße gefallen ist. Wie aufgescheuchte Hühner haben wir die Rettung gerufen und uns auf die Straße gestellt, um zu verhindern, dass er überfahren wird. Es hat sich herausgestellt, dass er in der Wohnung schräg über uns wohnt. Immer, wenn ich ihn sehe, muss ich an das Geräusch vom Aufprall des Kopfes auf der Straße denken.
In der Wohnung neben uns wohnt jemand, der gerne Videospiele spielt. Der Nachbar mit den Videospielen spricht in einer Sprache, die wir nicht erkennen und ärgert sich offenbar sehr, wenn er etwas nicht schafft.
Der Nachbar über uns hat zu wenig Kluppen und eine neue Freundin. Wir nennen sie liebevoll „die Schrei-Frau“. Manchmal macht er auch Musik, dann singt er mit Inbrunst. Über einige Wochen singt er immer das gleiche Lied, bevor er zu einem neuen wechselt.
Ein wahrhaftiges Phänomen sind die Nachbarn, die gefühlt jeden Tag mit ihrem Handy am Balkon verbringen.
Samstags kommen zu all dem die Lieder der Glaubensgemeinschaft in unserem Haus.
Schräg über uns wohnt eine Dame, die immer wieder laut eigener Aussage mit einem Freund telefoniert. Man muss aber anmerken, dass es wirklich nicht sehr freundlich klingt. Der Nachbar mit der neuen Freundin hat einmal aus dem Fenster gerufen, er würde die Polizei holen, wenn sie nicht leiser wird.
Besonders verbunden fühlt man sich auch mit den Nachbarn, die ein angrenzendes WC oder Badezimmer haben. Wenn man quasi gemeinsam am Klo sitzt oder gemeinsam duscht.
Ich kann mir nur ausmalen, was meine Nachbarn von mir, von uns mitbekommen. Wissen sie, dass ich französischen Psycho-Punk-Rock und schwedische Weihnachtslieder höre? Wissen sie, dass eine meiner Mitbewohnerinnen gerne saugt? Erkennen sie an der speziellen Art des Lachens und Nachäffens, dass meine Mitbewohnerinnen abends gerne Trasch-TV schauen? Kennen sie vielleicht ohnehin all unsere Geheimnisse, weil wir oft neben dem Klo stehen, wenn wir uns von unserem Tag erzählen?