Leandras Geschichte

 

Wie alles endete

Wie es war als Corona in Österreich ankam, kann ich nicht wirklich sagen. Für mich war es schwer zu begreifen. Ich war mit meinem Freund in der letzten Februarwoche auf Sardinien. Die Planung dieser Reise hatte meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Ich bekam zwar mit, dass diese Lungenerkrankung, die seit letztem Jahr in China kursiert, nunmehr in Italien angelangt sei, aber schenkte diesen Meldungen nur wenig Interesse. Eine meiner Vorgesetzten meinte nur zu mir: „Dass Sie aber gut aufpassen dort! Mit DEM ist momentan nicht zu spaßen!“, als sie erfährt, dass mein Flug auf die Insel von Venedig ausgeht. Mein einziger Gedanke zu dieser Zeit war nur „Hoffentlich erreiche ich pünktlich, den Flughafen, sonst war die ganze Planung umsonst!“ Auf Sardinien wurde der Karneval ausgiebig zelebriert, als wir ankamen, nicht die geringste Spur dieser Krankheit. Ich feierte gleich am ersten Tag mit tausenden von ausgelassen Menschen in Oristano „Sa Sartiglia“. Ein Ereignis, das mich kurz aus meiner Urlaubsstimmung holen konnte, war ein nächtlicher Anruf der Schwester meines Freundes. Sie schilderte die Vorkommnisse und wachsende Unruhe zu Hause, aber auch ihre Sorgen um uns. Mein Gedanke war: „Es wird schon nicht so schlimm sein!“. In den nächsten Tagen trudelten nach und nach Nachrichten von Freunden und Familie ein, die sich nach unserem Wohlbefinden erkundigen wollten. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich die Situation noch gar nicht fassen, zu Hause herrschte anscheinend Panik, in Venedig wurde der Karneval abgesagt und ich – ich bewegte mich über die Insel von einem Fest zum nächsten.

Als der Urlaub sich langsam dem Ende näherte, begann auch ich mir Sorgen zu machen, aber nicht aufgrund der Infektionskrankheit, sondern nur um meinen Rückflug. Von Sardinien aus telefonierte mein Freund mit der Corona-Hotline. Dieses Gespräch bestätigte mein damaliges Gefühl, dass es nicht so schlimm sein konnte. „Sie müssen einfach nur die Hände waschen und desinfizieren, so wie Sie es wahrscheinlich sowieso am Flughafen machen!“, wie schlimm konnte das Ganze denn sein. Voller warmer Gefühle und leichter Wehmut bestieg ich das Flugzeug, ohne zu ahnen, was mich beim Ausstieg erwartete.

Es war als wäre ich aus einer Art Paralleluniversum nach Venedig gekommen. Ich weiß gar nicht wie ich die Atmosphäre dort beschreiben soll. Es war regnerisch und menschenleer. Die Restaurants, die Cafés und die Straßen wirkten ausgestorben. Kellner standen auf verlorenem Posten vor ihren Lokalen und wirkten matt und müde. Die wahrscheinlich umsatzstärkste und belebteste Zeit im Jahr für Venedig und nun ist niemand da, keine Touristen, noch nicht einmal Einheimische zelebrieren das „Dolce Vita“ dieser schönen Stadt. Hier war es auch, dass Corona zu einem omnipräsenten Thema in meinem Leben wurde. Die Auszeit war vorbei, nun war ich wieder in der realen Welt angekommen. Überall, wo man Leute reden hörte, schnappte man zwangsläufig dieses Wort auf. Corona. Auf der langen Zugfahrt nach Hause nutzte ich die Zeit, um mich mit Familie und Freunden auszutauschen. In mir stiegen Schuldgefühle auf. Die ganze Zeit über hatte ich die Ermahnungen und Ängste einiger Freunde nicht ernst genommen, sie als etwas Lächerliches abgetan. Es war schrecklich zu merken, dass Menschen, die einem Nahe stehen, wirklich verängstigt waren und man ihnen nicht helfen konnte.

Zu Hause angekommen wurde es nicht besser. Ein paar Tage später verlor mein Freund aufgrund von Sparmaßnahmen seinen Job. Eine meiner Arbeitskolleginnen wollte nach meinem Urlaub nicht mehr mit mir zusammen Dienst haben, da ich ja krank sein könnte. Aber auch die Arbeit an sich gestaltete sich zusehends nervenaufreibender. Schlechte Laune, Überreiztheit und vor allem Unsicherheit machte sich unter unseren Kunden breit. Ein großer Part unserer Arbeit zu dieser Zeit bestand darin ängstliche Kunden zu beruhigen, ihnen zu versichern, dass wir auch morgen noch da sein werden. Mir wurde erst seit ich in einem Supermarkt arbeite bewusst, wie wichtig eine Verkäuferin für manche Menschen werden kann. Sie ist eine Konstante in manchen Leben, sie ist jeden Tag da.

 

Schöne neue Dystopie

Gefühlt war es ein Morgen wie jeder andere. Ich war zwar noch etwas müde von der vorherigen, auch schon verkaufsstarken Spätschicht in der Firma, aber es herrschte eine entspannte Stimmung im Team. An diesem Freitag vor dem ersten Lockdown hatte ich, zu meinem Bedauern, in der Früh die Fleischabteilung über. Von meinem Arbeitsplatz sah ich genau auf die Eingangstüre, die mir mit zirka 15 m Abstand gegenüberlag. Ich fragte mich noch, warum bereits eine halbe Stunde vor der Öffnung, schon einige Leute draußen warteten. Wir machten noch abfällige Bemerkungen, ob die Idioten nicht schon gestern mehr als genug eingekauft hätten.

An diesem Tag öffneten wir schon ein paar Minuten früher, wahrscheinlich aufgrund der Menschen, die schon gespannt vor der Türe warteten. Der Anblick, der sich mir an diesem Morgen bot, hat sich in mein Hirn gebrannt.

Die Leute sind gerannt. Ja, wirklich gerannt! Den Einkaufswagen mit beiden Händen fest umklammert, bahnten sie sich ihren Weg durch die Gänge. Einige der Kunden schienen sich zielgerichtet zu bewegen, während andere sich nur mit der Masse treiben ließen, ohne einem Plan zu folgen. Ich muss offen zugeben, ich konnte mir ein lautes Lachen nicht verkneifen und auch meine KollegInnen schienen sichtlich amüsiert. Es war ein Spektakel.

Die Kunden wirkten, wie eine Horde Gazellen, die von einem Gepard gejagt, aufgeschreckt und in blanker Panik, um ihr Leben rannten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Beschreibung wirklich bildlich genug ist, da Gazellen doch noch immer, selbst im Augenblick ihrer Hetze, eine grazile Figur machen. Die Meute verhielt sich vielleicht treffender wie betrunkene Waschbären, man weiß nicht genau was sie wollen, aber sie schauen niedlich aus, wie sie so dahin torkeln.

Mein anfängliches Amüsement verflog jedoch sehr schnell wieder, da sich die Horde bei ihrer Futtersuche natürlich auch der Fleischbeschaffung widmen musste. Es war der schiere Wahnsinn! Kaum hatte man einen Kunden abgefertigt stand bereits der nächste da. Ich verkaufte kiloweise Fleisch. Am liebsten kauften sie es noch original eingeschweißt, mit langem Datum und perfekt zum Einfrieren.

Eine meiner KollegInnen erzählte mir, dass sie beobachtet hatte, wie ein Wahnsinniger einem anderen Wahnsinnigen etwas aus dem Einkaufswagen gestohlen hat, und sie war wirklich froh, dass es nicht bemerkt wurde, wer weiß, wie sich diese Situation vielleicht entwickelt hätte.

Es wäre aber auch falsch zu sagen, dass sich alle Kunden an diesem Tag so verhalten hätten. Es gab auch genug Menschen, die dieses Verhalten nicht verstanden und sich gemeinsam mit uns über die Hamsterer lustig machten.

Die Regalbetreuer kamen mit dem Nachteilen der Ware gar nicht hinterher. Klopapier wurde gar nicht mehr in die Regale geschlichtet, man hat den Container einfach in den Gang gestellt und dieser wurde, innerhalb kürzester Zeit, von den verängstigten Kunden abgeräumt. Nudeln, Reis und alle möglichen Konservendosen waren begehrte Ziele der Einkäufer. Zu deren Glück waren Nudeln und Reis auch gerade in Aktion, so konnten sie auch noch Geld sparen beim Hamstern! Konservendosen waren bald rar und blieben es auch noch in den nächsten Wochen. Man kann auch auf die Weitsicht vieler Kunden schließen, wenn man bedenkt, dass viele fast panisch wurden, weil es keine Dose Bohnen gab, sie aber nicht auf die Idee kamen einfach getrocknete zu kaufen, die es noch in Hülle und Fülle in unserer Filiale gab.

Ein weiteres kostbares, jedoch auch schnell verderbliches, Gut war die Hefe. Die Germknappheit, die uns in diesen Monaten begleitete, machte selbst mir zu schaffen. Aber meine Angst, dass die Brauereien dieselben Probleme wie unsere Kunden haben könnten, war zum Glück unbegründet und das Bier ging nicht aus! Nachdem die anfänglich normale Lieferung an Hefe immer sofort ausverkauft war, haben sie halbe Kilo schwere Blöcke Hefe geschickt, die wir dann für die Kunden portionieren mussten.

Ich konnte die immer gleichen Fragen schon gar nicht mehr hören: „Haben Sie noch XY im Lager? Wann bekommen Sie XY wieder? Wie lange ist XY haltbar? Kann ich XY noch einfrieren? Ändern sich die Öffnungszeiten? Haben Sie nächste Woche noch offen?“

Was allein an diesem Tag, dem 13. März 2020, eingekauft wurde, kann man sich schwer vorstellen. Ich war dabei und kann es mir nicht einmal erklären. Soviel Essen kann keiner scheißen!

An diesem Freitag blieb ich, wie auch viele andere, länger in der Firma um unsere KollegInnen in diesem Stress zu unterstützen.

Auf meinem Nachhauseweg kam ich etwas zur Ruhe und ließ den Tag noch mal vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, wie so eine Kleinigkeit, wie ein bevorstehender Lockdown, die Menschen in Österreich so verrückt machen kann, dass sie scheinbar kopflos agieren. Ein großer Kritikpunkt an postapokalyptischen Filmen meinerseits war immer, dass sich die Menschen nicht so rücksichtslos verhalten würden.

Aber anscheinend ist sich wirklich jeder selbst der nächste.

Wie es sich lebt

Das letzte Frühjahr, so wie eigentlich das restliche Jahr, war anstrengend und mühsam. Nicht nur wegen der Umstellungen in den Arbeitsweisungen, sondern vor allem wegen der Menschen. Die einzige Möglichkeit offline zu „shoppen“ war es, Güter zur Grundversorgung zu kaufen, und so kamen auch viele zu uns, um sich die Zeit zu vertreiben. Anfangs, nach den Hamsterkäufen, haben viele Leute normale Großeinkäufe getätigt, um sich nicht einer potenziellen Ansteckung auszusetzen, aber nach kurzer Zeit hat sich alles wieder normalisiert und es wurde wieder täglich eingekauft. Für mich ist es nachvollziehbar, dass man Möglichkeiten nutzt, um vielleicht eine Auszeit von der Familie und den eigenen vier Wänden zu bekommen, um so vielleicht auch ein bisschen das Gefühl der Normalität zurückzuerlangen. Aber älteren Menschen wurde es, gefühlt zumindest, gesellschaftlich aberkannt einkaufen zu gehen. „Nur wegen denen machen wir den ganzen Scheiß und die laufen draußen rum, als wenn nix wär!“

Viele kaufen mehr als sonst bei uns ein: es gibt kein Essen in der Schule, keine Kantine, keinen Snack unterwegs. Viele Bereiche haben sich nun nach Hause verlagert. Nicht selten habe ich in dieser Zeit, vor allem von Müttern, Aussagen wie „Der Kühlschrank ist schon wieder leer! Die fressen einem die Haare vom Kopf!“ gehört. Einige Kunden fragten nach Rezeptideen und erzählten auch von ihren neuen eigenen Kreationen.

In meinem Arbeitstrott war es zermürbend zu hören, wie langweilig es doch so vielen ist.

Ja, es ist verständlich, da es keine freiwillige „Auszeit“ war, dass man gelangweilt oder überfordert mit dieser neuen Situation ist, aber es nervt trotzdem. „Nichtmal im Garten kann man was Gscheit’s machen, haben ja alle Baumärkte zu!“ „Ich backe jetzt IMMER mein eigenes Brot! Ist ganz einfach, man braucht nur…“ „Ich mag schon gar nicht mehr spazieren gehen!“

Im privaten Bereich wurde es auch nicht einfacher. Im Prinzip besteht mein Alltag seit letztem Frühjahr aus arbeiten und zu Hause sein, mit den kurzen Ausnahmen im Sommer und Herbst. Von Lebensqualität kann man da nicht gerade sprechen. Nicht, dass ich nicht gerne zu Hause wäre, meine Couch und ich sind BFF, aber irgendwann gehen einem sogar die besten Freunde auf die Nerven. Ich muss zugeben: Es hat bei mir etwas gedauert, bis mir der private, soziale Kontakt spürbar gefehlt hat. In meiner Arbeit habe ich ständig mit Menschen zu tun, ob nun Kollegen oder Kunden, und ich bin oft ganz froh, niemanden treffen und vor allem mit niemandem reden zu müssen, so kam es mir anfangs sogar ganz gelegen. Ich zähle mich auch zu den Glücklichen, die in ihrem Partner einen besten Freund haben, allerdings fehlt es mir auf Dauer einfach, mit Freunden zusammenzusitzen und über Götter, Welten und andere Katastrophen zu reden.

Die Alternativen sind zwar ganz nett, aber kein wirklicher Ersatz. Die verschiedenen Möglichkeiten, sich online zu treffen, haben so ihre Vor- und Nachteile. Man muss sich nicht bei Wind und Wetter durch die Stadt kämpfen und hoffen, einen Platz in seinem Lieblingslokal zu bekommen. Jedoch ist man ja schon zu Hause, also welche Ausrede gibt es dafür, dass man eigentlich keine Lust auf ein „Treffen“ hat.

Eine andere Möglichkeit ist das Spazierengehen mit Freunden. Ich muss zugeben, so oft wie ich in diesen Tagen an der Mur entlang gelaufen bin, war ich die letzten sechs Jahre nicht an der Mur. Also hat es zumindest auch etwas Gutes und ich denke, das werde ich auch beibehalten, wahrscheinlich nicht in diesem Ausmaß, aber doch.

Die Highlights dieses Jahres waren eine Geburtstagsfeier, bei der ich mir während der Sibirischen Kälte im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch abgefroren habe und traurigerweise auch die Beisetzung meiner Oma, wodurch ich endlich wieder einmal meine ganze Familie sehen konnte, ohne schlechtes Gewissen. Mit diesen Voraussetzungen bin ich schon gespannt, welche Untiefen dieses Jahr noch für mich bereithält.

Mein eigentlicher Anker, der mich sonst durchs Jahr bringt, ist es zu verreisen, und der scheint auch ferner denn je. Deshalb habe ich etwas für mich beschlossen: Ich fahre zwar nicht in den Urlaub, aber irgendwie muss man sein Geld ja loswerden, also werde ich mir eine PlayStation mit einer VR-Brille kaufen. Dann kann ich meine Urlaube wie meine Treffen mit Freunden halten, nämlich virtuell. Hab gehört, da kann man sich auch nicht so leicht anstecken, zumindest nicht mit dem Coronavirus.

 

Ängste

Eigentlich wollte ich einen Text schreiben, was mich alles an den Auswirkungen dieser Pandemie stört, jedoch ist er in eine Schimpftirade ausgeartet, aber dergleichen gibt es momentan genug. So versuche ich nun meine Gedanken zu ordnen und an die Zukunft zu denken.

Ich befürchte, dass es nie wieder ganz normal werden wird.

Ich befürchte, dass die Impfung zu Spannungen in der Gesellschaft führen wird.

Ich befürchte, dass die Engstirnigkeit zunehmen wird.

Ich befürchte, dass unsere Wirtschaft sich nicht erholen wird.

Ich befürchte, dass unsere Privatsphäre immer mehr eingeschränkt wird.

Ich befürchte, dass die Gewalt gegen Frauen zunehmen wird.

Ich befürchte, dass die soziale Ungleichheit noch viel schlimmer wird.

Ich befürchte, dass die Arbeitsbedingungen sich für viele verschlechtern werden.

Ich befürchte, dass Angst und Zorn in der Gesellschaft zunehmen werden.

Ich befürchte, dass aufgrund aufgeschobener Untersuchungen Krankheiten zu spät erkannt werden.

Ich befürchte, dass die psychischen Auswirkungen der Pandemie enorm sein werden.

Ich befürchte, dass wir sozialen Umgang miteinander wieder lernen müssen.

Ich befürchte, dass durch Corona viele wichtige Themen und Probleme vernachlässigt wurden und werden.

Ich befürchte, dass die Regierung den Karren an die Wand fahren wird.

Ich befürchte, dass diese Pandemie eine gute Ausrede für vieles ist.

Ich befürchte, dass ich Recht haben könnte.