Sigruns Geschichte

 

Eines vorweg – ich hatte nie vor, einem Virus jenen Stellenwert in meinem Leben zu schenken, den ihm die Medien in ihrer Berichterstattung täglich seit gut einem Jahr einräumen; selbst wenn die von ihm verursachte Krankheit sich ihren Namen mit dem Titel eines der schönsten Gedichte von Paul Celan sowie – an beiden Stellen ein Hoch auf den schrägen Humor des Zufalls – mit einer frühchristlichen Schutzpatronin gegen Seuchen und für Goldgräber teilt.

Als im März und April letzten Jahres die ersten Corona-Tagebücher viral gingen, war ich mir ziemlich sicher, nie ein solches zu lesen oder gar zu verfassen. Erwartbare minutiöse Beschreibungen persönlicher Befindlichkeiten während verordneter Isolation waren nicht das, was mich in der Situation des höchstpersönlichen Erlebens von persönlichen Befindlichkeiten während verordneter Isolation auf erbauliche oder wenigstens andere Gedanken gebracht hätte.

Nachdem sich meine anfängliche Verstörung über beobachtete Klopapier-, Schokolade- und – ausgerechnet – Sekt-Hamsterkäufe (zu Beginn mögen manche die Tage ohne Office noch gefeiert haben) gelegt hatte und die von Medizinern im Bekanntenkreis prognostizierte Abriegelung der Stadt – offenbar ein Trigger für das in meiner DNA oder zumindest im kollektiven Gedächtnis abgespeicherte Pest-Trauma – doch nicht eingetreten war, kursierten eine Zeit lang noch ein paar Seuchen-Mythen. Etwa die vom Killer-Virus, der nachts durchs gekippte Schlafzimmerfenster eindringt um seine ahnungslos schlafenden WirtInnen heimtückisch heimzusuchen oder vom fiesen Erreger, der an buchstäblich jeder Straßenecke lauert und sowohl Einkaufswagerln als auch Straßenschuhe tagelang als potentielles Transportmittel zu seinem Wirten nützt. Das waren die Zeiten, wo Desinfektionsmittel vergriffen war, man sich alternativ mit Alkohol die Hände keimfrei rubbelte und noch jeder Supermarkt-Besuch von einem kleinen Adrenalinschub begleitet war, Verkäuferinnen im Supermarkt futuristische Plastik-Visiere trugen, die zwar nicht schadeten, aber, wie man erst später wusste, auch nichts nützten und sie optisch wie akustisch in Wesen von einem anderen Stern zu verwandeln schienen. Auch wenn ich nie in meinem Leben halluzinogene Drogen probiert hatte – vieles Beobachtete in diesen Iden des März ähnelte dem, was ich mir unter einem beginnenden kollektiven LSD-Trip vorzustellen vermochte.

Als sich viele Befürchtungen dann doch als zu lebhafte Phantasien von SeuchenexpertInnen und JournalistInnen mit Faible für apokalyptische Headlines herausgestellt hatten, kam endlich der Sommer. Da dachte ich bereits, Corona kriegt mich und meinen Seelenfrieden nicht.

Irgendwann dann im Herbst war es soweit, ich entdeckte, dass Corona sich – wer weiß wie lange schon – unbemerkt – no na – in mein Unterbewusstsein eingenistet hatte. Mehrere Male wachte ich nachts schweißgebadet aus verschiedenen Varianten des immer gleichen Traums auf: Eine Begegnung mit M-E-N-S-C-H-E-N, gefolgt von tiefem Erschrecken und Herzklopfen: Ich trug keinen MNS! Ich war gefährlich und nackt gewissermaßen. Voller Scham- und Schuldgefühle begann ich jedes Mal hektisch in meiner Tasche zu suchen – Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Oft war dafür keine Zeit mehr, weil mich mein erhöhter Puls schon aus dem Schlaf gerissen hatte. Irgendwann hielten sich alle ProtagonistInnen in der Mehrzahl meiner Träume an die Verordnung und trugen Maske. Die neue Normalität hatte sich auch die Traum(bild)sprache bereits zu eigen gemacht.

 

Schleichende Veränderungen begannen sich auch tagsüber langsam bemerkbar zu machen. Fand ich zu Beginn der Pandemie den Anblick von Menschen mit verhüllten Gesichtern fast schmerzhaft verstörend, hatte ich im Frühjahr noch das Gefühl ein Gegenüber, dessen Mimik nicht sichtbar war, hat was zu verbergen, ist entweder ein Bösewicht Marke Bankräuber oder überhaupt kein Mensch, begann mein Gehirn offenbar diesen optischen Wahrnehmungsmangel mit einer zunehmenden Schärfung aller Sinne zu kompensieren. Irgendwann kam der Moment, wo ich Menschen trotz Maske nicht mehr als seelenlose, bekleidete Fleischklumpen, sondern wieder als Individuen wahrnehmen konnte. Sogar Flirten war wieder ansatzweise möglich. An dieser Stelle ist es dann angebracht, vom flapsigen zum etwas ernsthafteren Tonfall im Erzählen zu wechseln.

Anfang November dann ging ich körperlich auf Tuchfühlung mit Corona. Mein kleinerer Sohn war positiv getestet worden, blieb aber symptomlos. Ich hingegen hatte Symptome, aber keinen Test. Kopf und Magen im absoluten Ausnahmezustand. Bleierne Müdigkeit und Kraftlosigkeit über Wochen. Obwohl ich mit Corona nichts zu spaßen hatte, hatte mein Immunsystem, wie ich zwei Monate später erfuhr, keine nachweisbaren Antikörper gebildet. Vielleicht gehörte ich zu jenen angeblich rund 40 Prozent, bei denen trotz Erkrankung keine Immunität nachweisbar war. Meine alternative Theorie dazu: Vielleicht war nach der positiven Testung meines Sohnes mein „Glaube“ an Corona so stark gewesen, dass mein Körper mir auch ohne Infektion „lieferte“ was meine Einbildungskraft „bestellt“ hatte. „Dir geschehe nach deinem Glauben“ soll ja bereits in der Bibel behauptet worden sein. Gerade oder auch als AgnostikerIn sollte man daher vielleicht gerade in Corona-Zeiten sehr vorsichtig mit dem Glauben sein. Auf der Suche nach „der Wahrheit“ driften mitunter die persönlichen Realitäten mehr und mehr auseinander, kollektive Psychosen lassen grüßen. Der Glauben an alles Mögliche und Unmögliche ist dank Corona wieder im Trend. Frei nach dem neuen Motto: „Worüber man nichts wissen kann, darüber muss man nicht schweigen.“ Spätestens mit Beginn des 2. Corona- Jahres verfallen Menschen zunehmend, oft auch abwechselnd, in Impfsehnsucht, Impfangst, Impfneid und autoritäre Zwangsimpfungsfantasien.

Aber auch das macht Corona: Während meine Nachbarn mir früher wortlos, aber mit unmissverständlichen Blicken und selbst tüchtig schaufelnd, zu verstehen gaben, dass sie wenig Verständnis dafür hatten, wenn ich im Winter an den wenigen Tagen, wo Schnee fiel, diesem nicht sofort (und auch meistens nicht später) mit Schneeschaufel und Tausalz zu Leibe rückte, scheint Wasser im halbfesten Aggregatzustand imagemäßig in der Pandemie deutlich aufgeholt zu haben. Gefühlt jede einzelne Schneeflocke wird in diesem Winter 2020/2021 gefeiert. Bei Spaziergängen beobachte ich erwachsene Menschen wie sie mit Hingabe selbst geringe Schneemengen geduldig zu stattlichen Schneemännern auftürmen, meine Mutter schickt mir per WhatsApp ein Foto vom Garten eines befreundeten Steinhauers, in dem in diesem Winter Schneemeerjungfrauen und andere gefrorene Phantasiewesen hausen, Kinder rodeln in diesem Winter notfalls über Raureif, man wird genügsam. Während die Natur in Gestalt eines unsichtbaren Virus die Menschheit heimsucht und in die eigenen vier Wände verbannt, entflieht diese bei jeder Witterung eben diesen in die Natur. Ich frage mich, was all die Menschen, die mittlerweile durch Wald und Wiesen und alle verfügbaren Wege spazieren, früher wohl gemacht haben und was wohl passiert, wenn sie entdecken, dass sie den Familien-Ausflug zu Ikea inklusive Fleischbällchen-Wettessen gar nicht vermissen? Als ich dann die Fotos vom Ansturm auf die rechtzeitig vor Weihnachten zur Rabattschlacht geöffneten Möbelhäuser sehe, komm ich zum Schluss, dass dieser Gedanke nicht nur überflüssig, sondern wohl naiv war. In der Krise neigt man offenbar abwechselnd zu Sarkasmus oder realitätsferner Romantik. Venedig blieb auch 2020 allen schönen Fotomontagen zum Trotz leider delfinlos.

Ansonsten: Corona hat mich solide Jobs und finanzielle Sicherheit gekostet. Texte konnten nicht veröffentlich werden, weil sie, kaum fertig geschrieben, von der Realität überholt worden waren. Die Pandemie war immer einen Tick schneller als ich. In Zeiten verordneten Verzichts auf Körperkontakt war ein Artikel über die erste Berufs-Kuschlerin der Steiermark, die mit mir über die essentielle Notwendigkeit von körperlicher Berührung spricht, eine pure Provokation und verschwand im Ordner „Post Corona“. Die Ankündigung eines Corona-Maßnahmen-konformen Festivals, das im Frühjahr abgeblasen worden war, war mit der Ausrufung des zweiten harten Lockdowns im Herbst wieder einmal obsolet und somit nicht druckbar. Geplante regelmäßige kulturelle „Good News“ waren auch mit viel Kreativität und Optimismus einfach nicht mehr ausfindig zu machen. Nachdem die erste vom Adrenalin angeschobene Euphorie-Welle jede Menge Lockdown-Konzerte, Youtube-Lesungen, interaktive Zoom-Theaterstücke oder Minidrama-Filmchen ins Netz gespült hatte, war erstmal Ebbe. Mehrere Projekte wurden auf Eis gelegt oder lösten sich in Luft auf. Für Wut über die Erkenntnis, dass es anders gekommen ist, als geplant, bin ich mit 43 wahrscheinlich zu alt, Widerstand ist zwecklos. Strukturen halten nicht mehr, Festes verliert den Halt, die innere Schwerkraft ist plötzlich aufgehoben. Schlecht ist das nicht unbedingt, nur anders. Einmal zur Kenntnis genommen, dass der Schwebezustand der Normalzustand geworden ist, erwacht eine kindliche Lust zu fliegen, der mein bodenständiges Alter Ego in manchen verkopften Momenten noch nicht ganz über den Weg traut. Langsam, noch unkonkret, aber gewiss reift Neues heran, will ausgebrütet werden mit Geduld und Vertrauen. Ein Buchtitel fällt mir ein, der diese neuartige Ambivalenz mit zwei Worten erfasst: „Ungewisses Manifest“. (Leider ist der Titel nicht mir, sondern vor einigen Jahren dem Zeichner und Schriftsteller Frederic Pajak für sein mehrbändiges geniales Manifest „in Progress“ eingefallen. Aber wenn die Krise nur lange genug dauert, schreib ich vielleicht doch noch ein schmales Buch mit etwas schlichterem Titel)

An anderer Stelle ist Pragmatik und Entschlusskraft gefragt. Zum Beispiel wenn es um meine Kinder geht. Mein jüngerer Sohn leidet im ersten Lockdown zunehmend an der Isolation, der gelangweilte Teenager-Bruder beginnt Kreativität im Ersinnen neuer „Tratzereien“ zu entwickeln und die hunderste Runde Uno oder Malefiz oder Quiz oder Polsterschlacht oder Trampolin-Springen mit der eigenen Mutter ist irgendwann auch kein Highlight mehr. Er vermisst die Schule, seine Lehrerin und besonders: seine Freunde. Tränen fließen, die Motivation ist im Keller. Das Kind ist erstmals in seinem Leben tagelang aufrichtig traurig. „Mama, nichts gegen dich, aber du kannst überhaupt nicht so gut unterrichten, ich hab nämlich eine saugute Lehrerin“ bringt er auf den Punkt, was ich ohnehin weiß, die Politik, die geschickt an das Perfektions-Streben und die Aufopferungsbereitschaft vieler Frauen appelliert, zu dieser Zeit aber ausblendet.

Mit fällt kein Zacken aus der nicht vorhandenen Königinnen-Krone, ich will mir auch keine Medaille als landesbeste Mutter, braves Strebermädchen und Checkerin für eh alles verdienen. Ich will, dass mein Sohn wieder lacht. Ermutigt von seiner „sauguten Lehrerin“, die tatsächlich pädagogisch und menschlich ein Geschenk ist, beschließe ich, dass die Bedürfnisse meines achtjährigen Sohnes ab sofort an drei Vormittagen die Woche „systemrelevant“ sind und schicke ihn nach 6 Wochen Home-Schooling in die Vormittagsbetreuung. Im Nachhinein ist diese banale Entscheidung ein fast radikaler Akt, der mir hinter vorgehaltener Hand auch Kritik einbringt. Mehrere Frauen erzählen mir später, sie hätten trotz zunehmender Belastung der Kinder nur durchgehalten um nicht als überforderte, unsoziale und egoistische Mutter oder als „Problemfamilie“ dazustehen. Andere haben geschwärmt, wie wunderbar die gemeinsame Zeit als Familie zu Hause doch war und ist und wie toll sie die Situation meistern. Gestemmt haben diese unbezahlte Verlagerung von Arbeit und Bildung ins Private dort wie da in den meisten Fällen die Frauen. Halbe-Halbe, wenn vorhanden, ist im Lockdown häufig gekippt und musste mit viel Kraftanstrengung wieder in Balance gebracht werden, wie mir etwa bei einem Interview eine junge Forscherin und Mutter zweier Kinder sowie eine Schauspielerin einer feministischen Performance-Gruppe erzählten, beide mit einem Schmunzeln, das der falschen Annahme geschuldet war, dass nun wieder die vielbeschworene Normalität einkehrt. Damals, in diesem Sommer nach dem Lockdown, wo noch niemand ahnte, dass er zugleich der Sommer vor dem Lockdown und für viele Frauen ein kurzes Durchatmen vor dem Backlash-Backflash sein würde.

Mir über all das überhaupt Gedanken machen zu können, setzt etwas voraus, was viele Frauen weltweit gerade im Pandemiejahr nicht hatten: Ein solides Dach über dem Kopf, Gesundheit, genug Geld auf dem Konto, um meinen Kindern und mir am Bauernmarkt gesunde Nahrungsmittel zu kaufen und ein bisschen Obst, Kräuter, Salat auch selbst anzubauen. Was natürlich einen Garten voraussetzt, über den selbst im wohlhabenden und „ländlichen“ Graz nur die wenigsten Frauen verfügen. Da fällt mir wieder der Marie-Antoinette-Sager 2.0 einer reichen österreichischen Kristall-Erbin ein, die anlässlich der Wirtschaftskrise 2008 meinte, die Leute sollten halt selbst Gemüse auf ihren Terrassen anbauen, wenn sie kein Geld hätten, um welches zu kaufen. Mir ist bewusst, dass, ganz egal wie ich mich bemühe nicht ignorant zu sein, auch ich in einer Blase lebe und viele Probleme nur vom Hörensagen kenne. „Je suis Marie“- ob ich will oder nicht. Denn während ich mich gedanklich in der Regel im oberen Drittel der Maslow‘schen Bedürfnispyramide herumtummle und mir überlege, ob ich ein Online-Yoga-Abo abschließen soll oder ob Gitarrenunterricht (den ich mir zwar absparen muss, aber irgendwie leisten kann) für meinen Sohn vielleicht eine Bereicherung seines Alltags im Lockdown wäre und wie es sich mit Ethik und Freiheit oder Frausein in der Corona-Krise verhält, haben die meisten anderen Menschen weltweit und von diesen die Mehrheit Frauen und Kinder realere Probleme. An diesem Punkt verlässt mich dann die Lust über meine Erfahrung mit einer Pandemie zu schreiben, die mich vielleicht ein wenig aus der Routine gebracht, aber voraussichtlich definitiv nicht existentiell bedroht haben wird. Und es ist eine dieser Unfassbarkeiten und Absurditäten, dass jene, die nicht gehört werden, am meisten zu erzählen hätten. Ich habe also eine Schreibblockade und dafür sogar eine fast ehrenwerte Ausrede: Schamgefühl. Corona hat vieles noch sichtbarer gemacht, es lässt sich nicht mehr kaschieren: Etwa, dass es an der Spitze sehr privilegierte und an der Basis sehr unterprivilegierte Menschen gibt. Zweitere trifft diese Krise wie jede Krise besonders hart. Corona hat auch sichtbar gemacht, dass sogenannte „Frauenberufe“ im Handel und in der Pflege bei aller in diesen Zeiten so oft formulierten „Systemrelevanz“ vor allem eines sind: massiv unterbezahlt. Statt Gehaltserhöhungen oder Prämien gab’s gratis Händeklatschen; Billa-Kassiererinnen wurden im Frühling 2020, als man noch nicht wusste, wie ansteckend und gefährlich das Virus wirklich ist, für ihren potentiellen Hochrisiko-Einsatz an der Corona-„Front“ mit einem 50-Euro-Billa-Gutschein abgespeist, während sie Dank Hamsterkäufen für den Rewe-Konzern täglich Rekordumsätze einkassierten. Klassische Frauenberufe seien deswegen so schlecht bezahlt, weil nie geplant war, dass Frauen durch Arbeit finanziell selbstständig werden. Das Einkommen der Frau sollte bestenfalls ein kleiner Zuverdienst zum Familienbudget sein, um dem Mann die Rolle des Ernährers nicht streitig zu machen, so hat mir das im letzten Jahr eine Kunsthistorikerin und Kuratorin erklärt. Und wenn dann die Frauenministerin lapidar meint, dann sollten die Frauen halt andere Berufe wählen, ist das nicht nur ignorant und einer Frauenministerin nicht würdig, sondern in Zeiten des Pflegenotstands vielleicht auch nicht gerade eine weitblickende Empfehlung.

Aber das führt weg vom Thema, dass da sein soll „Corona und ich“. Und tatsächlich macht Corona mittlerweile oder gerade nicht mehr so viel mit mir. Ich treffe zwar gerne Menschen, kann mir aber auch alleine gut und gerne Gesellschaft leisten. Für große Reisen hatte ich schon vor Corona kein Geld und als Mutter von zwei Kindern keine Gelegenheit. Konzerte, Theater vermisse ich, aber Langeweile oder Einsamkeit kenne ich nicht, dazu habe ich zu viele ungelesene Bücher herumliegen, zu viele halbe Ideen und Gedanken im Kopf, die noch weitergesponnen werden wollen und zu viel guten Tee zu Hause. Ungeduld überkommt mich nur noch selten. Ich gebe auch zu, ich ringe nicht mehr um meine Identität. Wenn ich nicht gerade meine Tage habe oder mir ausgerechnet trotz Masken-Pflicht erstmals in meinem Leben einen knallroten Lippenstift kaufe, kommt mir meist gar nicht bewusst in den Sinn, eine Frau zu sein. Mich auf mein Geschlecht alleine zu reduzieren wäre mir zu eindimensional und schlicht sexistisch. Ich war schon als Kind eher burschikos und das einzige Mädchen auf den Buben-Geburtstagsfeiern, ich liebte Clever&Smart und ACDC, hab immer schon ein Faible für Blumen und fand schon als Kind Röcke bequemer als Jeans. Natürlich finde ich mich – Klischee hin oder her – als alleinerziehende Mutter in DER klassischen Frauenrolle wieder. Der Weltfrauentag und der weniger erfreuliche erste Geburtstag von Corona in Österreich fallen in die 2. Märzwoche dieses Jahres. Meine Söhne haben unterschiedlich starke Einschränkungen erfahren. Mein älterer Sohn hat im letzten Jahr nur selten seine Schule von Innen gesehen, aktuell findet immerhin an zwei Tagen die Woche Präsenzunterricht statt. Seine Motivation ist gering, er bewegt sich wenig, schläft tagsüber viel und versperrt sein Zimmer. Seine Noten sind im Sinkflug, aber immerhin noch nicht akut besorgniserregend, dafür hat er sich dank Dauerlockdown vorrübergehend in die österreichischen Top Ten eines Computerspiels gezockt. Manchmal mach ich mir Sorgen, manchmal kämpfe ich mit dem 1 Meter 88 großen Burschen um sein Handy, manchmal lass ich mich provozieren von den frauenfeindlichen Texten der HipHop-Musik, die er hört, manchmal wünsche ich mir einen männlichen Erwachsenen an meiner Seite, manchmal weibliche Verstärkung (wenigstens beim Osterbasteln, das mittlerweile sogar der 9-Jährige schon boykottiert). Und dann haben wir wieder gute Gespräche, zu zweit, zu dritt und Spaß und Spieleabende und schwelgen in Erinnerungen und träumen davon, wohin wir reisen würden, wenn wir könnten. Und dann staune ich oft – wenn sie sich nicht gerade streiten – wie klug und reflektiert und humorvoll und sensibel diese wunderbaren Buben sind, wie selbstverständlich sie unsere in mehrerlei Hinsicht nicht ganz einfache Situation im Konkreten und dieses verrückt-komplizierte Leben im Allgemeinen annehmen und meistern. Sie kennen es nicht anders. Ihnen fehlt jene verklärte Zeitspanne unseres Altersunterschieds, die ich manchmal als Vergleich heranziehe. Das ist eine Tatsache, aber wohl gar kein Mangel, sondern die Verheißung eines weißen Blatts Papier. Dann wird mir wieder klar, dass sie bereits bestens für eine Zukunft gewappnet sind, die ich nur vage erahnen kann und die nicht mehr ganz meine sein wird. Und dann weiß ich auch, dass sie Corona, größere und kleinere Probleme und eine manchmal wenig souveräne, nervende Mutter nicht daran hindern (vielleicht sogar dazu herausfordern) werden, ihren Weg zu gehen.

Wir haben uns gewöhnt an die weitgehende soziale Isolation. Während zu Beginn das Tragen eines simplen Mundschutzes noch gefühlt Beklemmung auslöste, empfinde ich mittlerweile auch das längere Tragen einer FFP2-Maske nicht mehr als nennenswerte Beeinträchtigung. Nun passiert es mir nicht mehr wie noch vor wenigen Monaten, dass ich jemandem reflexartig zur Begrüßung die Hand hinhalte oder überlege, ob ich FreundInnen umarmen soll oder nicht. Der Mensch mag ein Gewohnheitstier sein, aber irgendwann übernimmt seine Anpassungsfähigkeit das Kommando über ihn. Das ist ein tröstender und zugleich beunruhigender Gedanke. Man möchte sich nicht vorstellen, woran man sich alles gewöhnen könnte… Woran ich mich noch nicht gewöhnt habe, ist der Anblick von immer mehr Menschen, die beim Radfahren oder Laufen im Freien Maske tragen. Oder an Begebenheiten wie jene mit einem alten Herrn, der im Supermarkt diskutierend mit seiner Frau 10 Minuten vor dem Regal steht, wo ich stark mein Olivenöl vermute. Nachdem ich im Abstand von drei Riesenschritten gewartet habe, dreht er sich plötzlich zu mir um und brüllt mehrmals „Zwei Meter Abstand“. Ich überlege noch, ob ich ihn ernsthaft damit konfrontieren soll, dass ich vermutlich eher drei, jedenfalls mehr als zwei Meter Abstand einhalte, entschließe mich dann aber meinen Salat heute mit Kernöl zu marinieren. Wenn ich gut gelaunt bin, nehme ich solche Erlebnisse mit Humor, an anderen Tagen macht es mich nachdenklich, wie die Angst bei manchen Menschen zu irrationalen Verhaltensweisen führt. Auch die Verkäuferin meiner Stammbäckerei hat sich verändert. Früher habe ich mit ihr manchmal geplaudert und einen Kaffee getrunken. Sie war ausgesprochen freundlich und gesprächig, irgendwann wusste ich, wie alt ihre Kinder sind, und was sie am Wochenende gekocht hat. Mittlerweile kennt sie mich nicht mehr oder sie tut zumindest so als ob. Ihre Bewegungen sind angespannt, ihre Freundlichkeit ist aus den Augen und ihr Mund hinter einer Maske verschwunden. Sie freut sich nicht mehr, wenn Kunden in den Bäckerladen kommen, sondern fertigt sie möglichst schnell ab, ich überlege, ob es an der Arbeit mit der FFP2-Maske liegt, die sie nur abnehmen darf, wenn niemand im Laden ist, oder ob sie Angst vor Ansteckung oder Jobverlust oder andere Sorgen hat. Ich wage es nicht, sie das zu fragen, es wäre doch deutlich intimer als das unverfängliche Plaudern übers Wetter oder der Austausch von Geheimtipps für ein Radicchio-Risotto. Und dann gibt es diese Erlebnisse aus der 180 Grad-Parallelwelt: Wildfremde Menschen, die einen ohne ersichtlichen Grund tief in die Augen schauen, anstrahlen und anlächeln, entgegen aller Abstandsregeln ganz angstbefreit Türen aufhalten, fremden Kindern ihre Sammel-Sticker im Supermarkt überlassen, einem Herrn, der seine FFP2-Maske vergessen hat, eine schenken, eine Parkscheinkontrolleurin, die trotz abgelaufenem Parkschein ein Auge zudrückt, ein Spaziergänger, der wegen defekter Klingel ausdauernd an die Haustüre klopft, weil die Autofensterscheiben offen sind und es zu regnen beginnt, jemand (vermutlich maximal 1m 40 großer), der Herzen und lachende Smileys auf die beschlagene Fensterscheibe gemalt hat oder herzliche Hortpädagoginnen, die trotz steigender Infektionszahlen die Nerven und den Humor nicht verlieren und meinem jüngeren Sohn und seinen Freundinnen einen unbeschwerten Nachmittag ermöglich.

Natürlich gab es auch früher schon Menschen, die sich ängstigen oder sich selbst nicht mögen und daher vor anderen Menschen Angst haben oder sie nicht mögen. Und bestimmt gab es auch diese freundlichen Gesten schon vor Corona, auch wenn ich sie nicht so gehäuft wahrgenommen habe. Sie haben mich früher nicht so berührt, nun sind sie plötzlich sehr wertvoll geworden. Ohne Verletzlichkeit gibt es keine Feinfühligkeit, vielleicht hat also diese tiefe Verletzlichkeit, die uns diese Krise zugefügt hat, uns auch spüren lassen, dass Stärke nicht in der Abgebrühtheit und Coolness, sondern in der Empfindsamkeit liegt. Und noch ein unverfängliches aber hoffungsvolles Vielleicht, weil mit Vielleichts ja manchmal auch Träume beginnen: Vielleicht, indem wir nun spüren, wie zerbrechlich unser Zusammenhalt als Gesellschaft ist, beginnen wir erst zu spüren, was er bewirken kann.