Viktorias Geschichte

 

Ich werde von meinem starken Hustenreiz munter. Die Gedanken werden langsam hochgefahren, die Decke über mir fährt davon, um mich herum verschiedener Lärm, ich spüre, wie mir jemand eine Maske aufs Gesicht legt. Mein Hustenreiz wird stärker, ich habe kurz Angst zu ersticken. Ganz langsam wird mein Kopf klarer. „Keine Maske, ich habe kein Scheiß Corona, ich huste von dem – Dings!“ So ungefähr krächze ich den OP-Helfer an, das Wort Intubation fällt mir nicht ein. Ich schwimme in einem Meer von Gefühlen, das stärkste ist im Moment Ärger. Der Arzt nimmt mir die Maske ab. „Die braucht sie nicht.“ Der Ärger verfliegt, ich bin dankbar, dass doch nicht die ganze Welt den Verstand wegen einer Krankheit verloren hat.

Als ich wieder aufwache, ist um mich alles ruhig und dunkel. Ich frage den Pfleger nach meiner Tochter, es sind schließlich einige Stunden vergangen, seit ich sie gestillt habe. „Die haben gerade angerufen und sind schon unterwegs, gutes Timing!“

Als ich mein Baby endlich in den Arm nehmen darf, schmelzen Stress und Schmerzen in der Endorphin- und Oxytocinwolke einfach weg. Egal was rundherum passiert, jetzt gibt es nur uns. Bis der Papa sich einmischt und fragt, wie es mir geht. „Jetzt gut.“ Das Baby hat glücklicherweise bis jetzt geschlafen, anscheinend haben wir noch einen gleichen Rhythmus, ich bin froh, dass wenigstens der Papa mit ins Krankenhaus durfte.

Der Dreijährige ist daheim, die Godi passt auf ihn auf. Eigentlich hätte er ja bei uns im Zimmer sein sollen, die Privatklinik bietet „Rooming in“ an, die ganze Familie darf beim Baby bleiben. Aber dann kam Corona. Und dann der Lockdown. Ich war froh, dass es für mich das zweite Kind war, Geburtsvorbereitung fiel ja flach und auch sonst lief alles auf Sparflamme. Wir hatten uns bereits in der Privatklinik angemeldet, da war es auch erlaubt, dass der Vater bei der Geburt dabei sein durfte. Das dreijährige Geschwisterkind war allerdings trotz Test und Einzelzimmer nicht erlaubt. Momentan bin ich darüber nicht einmal traurig, es hat niemand geahnt, dass ich nach der Geburt auf der Intensivstation landen würde und so muss ich mir um ihn keine Sorgen machen.

Ein bisschen skurril mutet mich die ganze Situation dann doch an. Überall hört man von den vielen Kranken, das Leben steht still, damit niemand gefährdet wird und ich liege hier ganz alleine auf der Intensivstation. Ohne Corona. Dass ich zur Zeit extrem hormongesteuert bin, macht die ganze Situation nicht leichter. Einerseits möchte man natürlich niemanden gefährden, andererseits empfinde ich aber auch Wut, weil ganz viele Leute extrem zurückstecken müssen und es dann anscheinend nicht notwendig ist, auch die Intensivstationen von Privatkliniken mit zu verwenden. Immer wieder ertappe ich mich beim Gedankenkarussell, welche Maßnahmen sind notwendig, welche sinnvoll, welche nur hilflose Versuche, so zu tun, als hätte irgendjemand die Krankheit im Griff?

In der Früh darf ich zurück aufs Zimmer, zu meiner neugeborenen Tochter und meinem Mann. Über WhatsApp telefonieren wir mit unserem Sohn und zeigen ihm seine Schwester, auf die er sich schon so gefreut hat. Mein Mann wird zu Mittag nach Hause fahren, ich soll noch bleiben, bis mein Kreislauf wieder stabil ist und die erste Mutter-Kind-Pass- Untersuchung können wir dann auch gleich machen. Mir tut noch alles weh und ich will nicht alleine mit dem Baby hierbleiben. Mein Mann hat am Klinikeingang ein Plakat gesehen, auf dem steht, dass es auf Nachfragen Ausnahmen für Besuche geben kann, er ruft bei der Nummer an und kurz haben wir Hoffnung, dass unser Dreijähriger zu uns darf. Seine einzigen Kontaktpersonen in den letzten Wochen waren wir, frisch negativ getestet und natürlich seit gestern die Godi. Aber wir bekommen keine Ausnahmegenehmigung für unseren Sohn. Gründe für oder gegen werden keine genannt, in meinem Kopf führt das zu Verschwörungstheoriewucherungen. Gerade bei Krankenhäusern bin ich sehr empfindlich, da die lebenswichtig OP meiner Mutter vor zwei Jahren aus fadenscheinigen Gründen verschoben wurde. Auch hier habe ich den Verdacht, dass mein Name einfach nicht einflussreich genug ist. Seit Corona wächst in mir dieser Zwist, die Ratio sagt mir, dass eben niemand Zeit oder Befugnis hat, genauere Gründe zu erläutern, dennoch kommen immer wieder Gedanken hoch, wenn mir Dinge als unlogisch erscheinen.

Als es in den Lockdown ging, haben wir, nach Rücksprache mit meiner Frauenärztin, eine ambulante Geburt geplant. Ich habe auch kurz eine Hausgeburt überlegt, aber in der Innenstadt im 4. Stock, ohne Lift, war mir dann doch zu unsicher. Wobei es dann doch fast eine Hausgeburt geworden wäre, weil es das Baby dann ganz schön eilig hatte. Trotz allem waren wir natürlich nicht auf die nachgeburtlichen Komplikationen gefasst und jetzt verabschiede ich mich von meinem Mann und es fühlt sich an, als würde er in die unerreichbare Ferne reisen.

Das frische Baby und die Nachwehen sind genug Unterhaltung, damit mir auch ohne weitere Sozialkontakte nicht langweilig wird. Die Situation ist dennoch seltsam. Ich komme kaum zum Essen, weil meine Tochter weint, sobald ich sie weglege. Die Hebammen dürfen nur die Geburt unterstützen, die Schwestern kommen möglichst selten aufs Zimmer. Ich kann das Baby nicht waschen, weil ich dazu Gemeinschaftsräume betreten müsste. Ich muss warten, bis wir zur Untersuchung aufgerufen werden, sehnsüchtig blicke ich auf die Babybadewanne, in den Haaren meiner Tochter hängt noch gestocktes Blut, aber es gelten zurzeit ja besondere Hygienevorschriften.

Als eine Schwester das Abendessen hereinbringt, es ist gerade früher Nachmittag, bitte ich sie, den Zugang in meiner Armbeuge zu entfernen, der Arm schmerzt mich mit jeder Bewegung und ich kann das Baby beim Stillen nicht ordentlich anlegen, wegen des harten Plastiks. „Es ist besser, das bleibt noch drin, falls wir das nochmal brauchen!“ Sagt es und ist schon wieder draußen. Ich schalte den Fernseher ein, nicht ORF, da könnten Nachrichten sein, ich schalte auf einen deutschen Privatsender,  um mir mit irgendeinem stumpfsinnigen Blödsinn meine Schwermut zu vertreiben. Obwohl man getestet ist, jeder ist der potentielle Mörder, man fühlt sich fast schon schuldig, weil man nicht daheim ist, jeglicher Kontakt ist zu viel, nur die Menschen in einer alten Fernsehsendung leben noch in der coronafreien Zeit.

In der Nacht lasse ich ein Nachtlicht brennen. Allerdings für mich, nicht fürs Baby. Aber durch dieses Isoliertsein im Krankenhaus und die ständige unterschwellige Gefahr schleichen sich alle jemals gelesenen und gesehenen Endzeitgeschichten und Zombieapokalypseserien in den Kopf und plötzlich ist das süße Baby, dass mit großen Augen und weit geöffnetem, zahnlosem Mund fokussiert auf den Busen zusteuert, ein gefährliches Raubtier. Mein Mann ruft mich an und ich halte doch ein süßes Baby im Arm. Ich habe Angst, gerade wahnsinnig zu werden, das sage ich ihm aber nicht. „Was ist passiert? Warum weinst du?“ „Ich will nach Hause.“

Am nächsten Tag kommen mein Mann und mein Sohn uns besuchen. Sie stehen am Radweg, der an der Klinik vorbeiführt und ich winke ihnen vom Balkon aus zu, gleichzeitig telefonieren wir. „Mama, ich brauch meine Schwester und dich doch!“ „Morgen, mein Schatz!“ Die letzten Tage fühlen sich unwirklich an, ich fühle mich fast wie ein Verbrecher, als ich zum Klinikausgang gehe, einen fast vollen Pack Windeln und Feuchttücher im Gepäck. Eine Schwester hat mich gebeten alles mitzunehmen, weil sie müssten sowieso alles wegschmeißen. Beim Tragen habe ich keine Hilfe, mein Mann darf die Klinik nicht mehr betreten, in dem Moment, wo er sie verlassen hat, hat er sein Recht aufgegeben, bei mir und dem Kind zu sein. Beim Ausgang sitzt der Corona-Beauftragte, vor drei Tagen war er noch sehr bemüht darum, mir zu erklären, wie ich die Maske trotz der letzten Wehen korrekt tragen solle, jetzt schafft er es nicht, mir die Türe aufzuhalten. Da kommt mein Sohn mit leuchtenden Augen auf mich zugelaufen: „Hallo meine liebe Schwester!“

Ich bin froh, als ich daheim ankomme. Ich weiß zwar nicht, wie ich die Stufen in den 4. Stock schaffen soll, aber jetzt bemerke ich, wie sehr mir die Stimmung im Krankenhaus aufs Gemüt geschlagen hat. Kein Recht auf Besuch, man darf das Zimmer nicht verlassen, Wochenbett in Einzelhaft, obwohl der Lockdown eigentlich vorbei ist.

Mein Mann ist mit den Kindern in der Wohnung angekommen, während ich mich langsam die Stufen raufquäle. Mit mir geht die Angst. Ich blute immer noch recht stark, ich fühle mich schwach, ich wurde zwar entlassen, solle aber aufpassen, nicht zu viel tun und Kontakt zur Nachsorgehebamme suchen. Ich will sie eigentlich nicht anrufen, ich habe mir meine Hebamme schon vor langer Zeit ausgesucht, aber weil sie im Krankenhaus arbeitet, darf sie keine Hausbesuche machen. Ich verstehe es zwar, aber ich muss mich nicht darüber freuen. Es wäre für mich persönlich viel einfacher gewesen, wenn wir, wie geplant, als Familie im Krankenhaus hätten bleiben können. So habe ich das Gefühl, noch nicht bereit zu sein für daheim, aber das kleinere Übel gewählt zu haben.

„Ja, nach 3 Stunden war sie da. Ein Sternguckerkind. – Ja, spontan. – Erst nach der Geburt, Gebärmutteratonie. – Nein, ist das zweite Kind, soweit wissen wir eh Bescheid. – Nein, Stillen geht super. – Nein, kein Fieber, keine Erkältung, wir sind gesund. – Ja, Mittwoch passt. Wir sind sowieso daheim.“ Die Hebamme hat sehr nett geklungen, es wird schon passen.

 Als die Hebamme kommt, bin ich erleichtert. Sie ist noch viel freundlicher, als sie am Telefon geklungen hat, sie ist unkompliziert und verständnisvoll. Auch wenn sie ein wenig besorgt wirkt, weil der Stand meiner Gebärmutter noch nicht ganz passt, fühle ich mich beruhigt. Sie gibt mir Tipps und Kräutertee, und trotz der Maske kann man gut erkennen, dass sie viel lächelt. Das Thema Corona meiden wir halbwegs, bis auf die obligatorischen Fragen nach Gesundheit und Hygiene. Mein Sohn ist jedenfalls begeistert von der freundlichen Frau, die uns jetzt ein paarmal besucht.

Das Baby ist fünf Tage alt, als mein Vater zu Besuch kommt. Der erste Besuch. Er bleibt nur ein Viertelstunde, aber ich bin so froh, dass er da war. Überall lese ich darüber, wie toll es für die Gebärenden sei, dass sie Ruhe von dem vielen Besuch haben. Aber ich finde das nicht schön. Ich bin traurig, weil meine Tochter nicht von allen Seiten mit offenen Armen empfangen wird, weil sie nicht so herzlich begrüßt wird wie mein Sohn vor drei Jahren. Natürlich gibt es Glückwünsche am Telefon, aber es ist nicht das Gleiche. Und so sehr ich mich freue, als mein Vater kommt, er kommt alleine, die Stiefmutter kommt nicht mit. „Du weißt ja, sie hat Angst. Wegen Corona.“

Die Godi mit Familie kommt auch zu Besuch. Man hört die Unsicherheit am Telefon. „Ist es ok für Dich, wenn wir kommen?“ „Ja, bitte! Gerade du! Ohne dich wäre das ganze ja eine Katastrophe gewesen!“ Ich bin erleichtert, dass sie kommen, ich würde sie alle am liebsten gar nicht mehr gehen lassen. Am liebsten würde ich meine Freunde und Bekannten am Telefon anbetteln, uns zu besuchen, aber es bleibt bei einem vorsichtigem, fast verschämten „Also, falls es passt, ihr seid willkommen. Hände waschen und Maske, wer gesund ist, darf kommen, kein Problem!“ Der Lockdown ist vorbei, die Aura des Verbotenen bleibt.

Das Lieblingsbuch des Dreijährigen ist momentan sein Babyalbum. Das, was wir beim Fotopaket von der Fotografin aus dem Krankenhaus gekauft haben. Wo ich später noch gemeint habe, es sollte eigentlich verboten werden, den Eltern im Hormonschock so teure Bilder ohne großen künstlerischen Wert anzubieten. Ich bin zwar froh, die Fotos zu haben, aber es gibt durchaus genug Fotografen, die sich mehr Zeit nehmen und hochwertigere Bilder machen. Die sind allerdings schon Monate im Voraus ausgebucht. Nur, vor einigen Monaten war Corona noch kein Thema bei uns. Ich versuche also mein Glück und schreibe eine Fotografin an, deren Portfolio mich besonders anspricht. Und ich habe Glück, sie hat tatsächlich diese Woche noch einen Termin frei! Wir freuen uns alle, dass wir schöne Babyfotos bekommen, auch wenn sich immer wieder ein leichter Schatten über jegliche Freude legt. Es nimmt einem das Unbeschwerte, wenn man sich bewusst macht, dass hier vermutlich nicht nur ein Termin ausgefallen ist, sondern eine ganze berufliche Existenz ins Schwanken gebracht wird.

 Es ist überhaupt schwierig, das Thema Corona anzusprechen, es beschäftigt naturgemäß jeden und jeder hat eine Meinung dazu. Ich selbst merke, wie ich manche Aktionen der Regierung für total überzogen halte und manche für zu lasch und an anderen Tagen meine Meinung wieder ändere. Aber ich kenne Leute, die die Krankheit für eine Verschwörung halten, genauso wie welche, die so eine Panik haben, dass sie nicht einmal mehr telefonieren. Ich rege mich momentan wegen allem schnell auf und meide das Thema schon alleine deshalb. Noch habe ich ja Glück und kenne niemanden, der erkrankt ist. Vielleicht ist ja auch das der Grund, warum ich Corona momentan am meisten dafür hasse, dass über meinem Wochenbett ein Schatten von Angst hängt und meine neugeborene Tochter weniger Aufmerksamkeit bekommt, als ihr zusteht. Natürlich ist mir klar, dass es weltweit viel schwerwiegendere Probleme gibt und wir als kleine Familie unserer Tochter genügen, aber ich kann und will meine Gefühle nicht leugnen. Denn auch wenn diese Krankheit tatsächlich einer der vier apokalyptischen Reiter sein sollte, so steht die Welt trotzdem noch nicht still.