Gittas Geschichte
Und dann kam Corona … und es blieb bis heute
Mit Corona kam es im März 2020 zum ersten „Lockdown“. Nicht nur für mich ein neuer Begriff, der jedoch sehr rasch Einzug in die Alltagssprache hielt und auch von gänzlich Unbeleckten des englischen Sprachgebrauchs, wurde er bald so selbstverständlich ausgesprochen wie Semmerl, Bier oder Gassigehen.
Der erste Lockdown – mittlerweile haben wir bereits den dritten, man gewöhnt sich nicht an alles – also der erste Lockdown hat mich in Erstaunen versetzt. Bevor ich weiter darauf eingehe, sollte ich etwas zu meinen Lebensumständen – was ein umständliches Leben mit meint – sagen, zumal ich vermute, dass so ein Lockdown in größeren Städten wie Graz oder gar Wien anders wahrgenommen wird, vielleicht rigoroser als im Ländlichen, wo man einschichtiger und auf eine Weise gemächlicher lebt.
Ich wohne allein zur Miete auf einem Hügel in einem alten Kellerstöckl an der südsteirischen Weinstraße. Allein meint hier ohne Partner oder andere menschliche Mitbewohner, auch keine -Innen. Also „allein“ ist nur auf andere meiner Art bezogen. Gerade jetzt schläft zu meinen Füßen eine ältere Hündin, die Lilly. Neben mir schnurrt der vierzehnjährige Kater Fritz. Mit ihm teile ich ein großes Lammfell, das uns die harte Bank kuschelig macht. Auf dem alten kleinen Perserteppich vor meiner Plauschecke, die ich vis a vis von meinem langen Esstisch eingerichtet habe, der im Winter als Arbeitsplatz genutzt wird, weil er in der wärmenden Nähe meines Ofens steht, dort liegt die unglaublich dicke Katze Fanny.
In meinem Kellerstöckl gibt es also eine gut eingespielte Community. Die 25 Hühner zähle ich eher zu einer Art des Gesindes, sie gehören nicht direkt zur Hausgemeinschaft. Das möchten sie zwar gerne, weil es hier drinnen im Winter angenehm warm ist, doch scheint mir ein wenig Distanz angebracht. Das bedeutet zwanzig Meter von meiner Haustüre bis zu ihrem Stall auf der rechten Seite des Hofweges. Links vom Weg ist mein riesiger Küchengarten, der für eine zwölfköpfige Familie ausgelegt ist. Entgegen all meiner guten Vorsätze, ist die Hälfte davon immer verunkrautet – ein grün wuchernder Vorwurf an meine Unzulänglichkeit.
Umgeben sind Häuschen und Garten von Wiese und Wald. Nur die Weinstraße stört ein wenig und der Plastikmüll und die Aludosen, die aus den Autos der idyll-seligen Weinstraßenbesucher oder von den Wanderern auf die Wiese und in meinen kleinen Weingarten entsorgt werden.
Bis zu den nächsten Supermärkten fahre ich sieben Kilometer mit dem Auto. Man hat gleich mit vieren davon die fruchtbarsten Ackerböden im Leibnitzer Feld versiegelt, im Verband mit Textil-Discountern und dem, auf dem Lande, unumgänglichen Lagerhaus. Die Bäuerin, die die Äcker verkauft hat, kann sich die Matratzen ihres überdimensionalen Ehebettes jetzt mit 200-Euro-Scheinen füllen lassen.
Zurück zu meinem Erstaunen.
Ich fuhr am Samstag vor dem ersten Lockdown vom Hügel hinab durch den Ort Ehrenhausen mit seiner 300m langen Mainstreet. Es war anscheinend alles wie an anderen Tagen und irgendwie doch nicht. Nach dem Überqueren der Bahngeleise der Südbahn gelangte ich nach drei Kilometern zur besagten Supermarktansammlung und wollte beim Spar die Hafermilch, sowie Hunde- und Katzenfutter kaufen. Doch für mein kleines Automobil ließ sich auf dem riesigen zugepflasterten Areal kein Parkplatz finden. Nicht einmal vor den Weihnachtsfeiertagen sind dort halb so viele Autos zu sehen wie an diesem bevorstehenden Lockdown. Ich habe gar nicht weitergesucht, bin langsam und sehr vorsichtig wegen des querenden Kundenstroms an der parkenden Blechlawine vorbeigefahren und staunte. Von ganzen Familienverbänden schob jedes Mitglied einen Einkaufswagen so voll beladen, dass die Waren beinahe wieder herauspurzeln hätten können. Den meisten Platz nahmen Klopapierpackungen und Küchenrollen ein, dann Dosen, Zuckerpakete, Reisvorräte bis zum Jahr 2022, Speiseölkanister, Mehl in Großhändlerstückzahl. Weltuntergangsstimmung wurde über die Parkplätze geschoben, man baute Festungsmauern aus Klopapier, Küchenrollen, Waschpulverpaketen, Bierkisten – das gibt Sicherheit, kein Virus würde diese Barrieren überwinden können.
Ich telefonierte mit meiner alleinlebenden Freundin. Sie gestand: “Ich habe auch zwei große Pakln Scheißpapier gekauft.“ „Warum?“ frage ich. Sie: “Ich weiß es ist irrational, aber der Gedanke, es wäre nicht mehr genug Papier da, um mir den Hintern abzuputzen, war wie eine Metapher für die Endzeit“. Ich: „Da kann man ja zur Not kleingeschnittenes Zeitungspapier nehmen und weichrubbeln. Das haben in meiner Kindheit fast alle gemacht.“ Sie: “ Ich habe keine Printmedien mehr. Ich les` alles online.“
Mir ist bekannt – es steht schon in jedem Gratisblatt – wie schädlich Verdrängung sein kann. Also lausche ich weit in die Tiefen meines Unbewussten, wo sich eventuell die Virusangst heimtückisch versteckt haben könnte, um mich überfallsartig über seelische Steine stolpern zu lassen. Ich werde nicht fündig. Ich schäme mich beinahe hier kundzutun, dass ich fasziniert war von der plötzlichen Stille. Selbst bei Ostwind, kein Rauschen von der A9. Kaum ein Auto auf der Weinstraße und – wie balsamisch für meine Ohren – keine Motorradfahrer; die dröhnenden Zweiräder, blitzblank geputzt für die Frühlingsausfahrt, mussten in den Garagen bleiben.
Und erst der Himmel! Kindheitsblau! Keine Kondensstreifen am Firmament, kein Brummen von im Thalerhof gestarteten Flugzeugen, auch kein Aufjaulen der Triebwerke von jenen, die dort landen wollten. Ich nehme das Geläute von vier umliegenden Kirchen wahr, lauter den ohnehin immer spärlicheren Vogelsang. Es ist beglückend! Ja, beglückend. Mit meinen Freunden vom Nachbargehöft lauschen wir gemeinsam der ungewohnt sanften Klangwelt. Die Hast ist aus dem Hörbaren wie weggezaubert. Dazu dieses streifenfreie Frühlingsazur über uns. Es scheint alles wie aus der Zeit gefallen. Wir sprechen sogar leiser und jetzt wird deutlich, wie oft wir die normalen Alltagsgeräusche mit unseren Stimmen übertönen müssen.
Ähnlich geht es auch den Vögeln, wie Ornithologen zu berichten wissen.
Im dritten Lockdown
Meine Muse weigert sich, mich zu küssen. Nicht einmal ein Kusshändchen schickt sie aus der Entfernung mir. Sie hat sich einfach verdrückt. In einen strengen Lockdown begeben, selbstauferlegte Quarantäne. Vom Haus der Musen blickt sie durch das Kunstglas herab auf mich, selbstredend mit einer Efefpezwei- Maske angetan. Nur kurz blicken wir einander in die Augen und schon ist sie wieder weg. Mag sein, dass Musen sich übers Anblicken infizieren können. Vielleicht zieht sie sich mir zuliebe zurück aus Rücksicht auf eine spätere Schaffensphase, die mir bevorsteht, um mich dann ordentlich abzubusseln.
So ganz ohne Musenkuss, versuche ich dennoch einen Corona-Text.
Wonnen, die mir der erste Lockdown noch bescherte, sind im dritten nicht mehr da. Die eingeschränkten Einkaufsmöglichkeiten belasten mich nicht sonderlich, aber ich vermisse das Stöbern in unseren beiden Buchhandlungen in Leibnitz oder manchmal auch beim Morawa in der großen Stadt an der Mur (der urbane Leser merkt gleich: Hier schreibt ein Landei). Auch die kleine Leihbibliothek hat die Schotten dicht gemacht und nach einem unaufschiebbaren Arzt- oder Behördenbesuch, kann ich mich nicht mehr ins Café auf einen Cappuccino und Strudel einladen.
Für die Entwicklung meines positiven Zukunftsausblicks habe ich nun ein Kultursparschwein in der tiefen Fensternische, vor der mein Küchentisch steht, platziert und stecke das Geld, das ich weder im Café noch in der Buchhandlung ausgeben konnte, in den Schlitz, der sich auf dem Rücken des Sparschweines öffnet. Das Schweindl ist transparent (…ganz im Gegensatz zu – naja, lassen wir das) und ich kann sehen, wie sich sein Bauch füllt. Es ist ein eher kleines Schwein, passend zu meiner finanziellen Ausstattung. Für hiesige (aber feine) Kulturveranstaltungen wird es reichen. Für was Größeres müsste noch rasch ein vierter Lockdown her.
Nein, bloß nicht! Den wünsche ich mir nicht und schon gar nicht den anderen, den Müttern, die mit ihren Kleinen diese Situation bewältigen müssen, den Eltern, die dem Grant ihrer pubertierenden Sprösslinge mit Nachsicht begegnen sollten, den Alten, die einsam vor sich hin sinnieren, wo doch jeder Lebensmonat so kostbar wird in der absehbaren Endlichkeit. Und natürlich als Gegenpol die Jungen, die sich nach ihresgleichen sehnen, aber nicht digital, sondern analog. Ich fühle – auch aus eigener Erfahrung – mit den Leuten, die sich bang fragen, wie es mit ihrer wirtschaftlichen Existenz weitergehen soll.
Ja, ich trage brav meine Maske, halte Abstand, lasse mir zum wiederholten Mal mit dem Teststäbchen beinahe das Frühstück aus dem Hals kitzeln, aber die Pandemie zipft mich an, aber schon sowas von anzipfen.
Und noch mehr machen mich viele, damit verbundene Umstände, wirklich traurig: Meine absolute Lieblingstante musste wegen zunehmender Lähmung vom Becken abwärts in ein Pflegeheim gebracht werden. Ihr Ehemann – mein grandioser Onkel – hat in den letzten Jahren kochen gelernt, den Haushalt geschupft, den Gemüsegarten in Schuss gehalten, halt all das gemacht, was früher ihr Aufgabenbereich war. Doch jetzt sind seine Kräfte geschwunden. Mit seinen neunzig Jahren, konnte er sie nicht mehr auffangen, wenn ihre Beine wegsackten, sie nicht mehr hochziehen, wenn sie auf das WC musste und sie hat es nicht ausgehalten, sich von ihm säubern und wickeln zu lassen, wenn ihre Schließmuskeln immer öfter versagten. Die beiden sind nun seit siebzig Jahren verheiratet. Durch sie habe ich erfahren dürfen, dass es Paare gibt, die nach so langer Zeit einander in Liebe und Zärtlichkeit zugetan sind. Und nun sitzt seine Liebste wie ein Häufchen Elend hinter den Fenstern des Pflegeheimes und er steht draußen in der Kälte und sie winken einander weinend zu. Einmal wöchentlich dürfen entweder er oder eine/r ihrer drei Kinder sie besuchen. Einmal wöchentlich für armselige fünfzehn Minuten mit zwei Meter Abstand, Gesichtsmaske und unter Vermeidung jeder Berührung.
In diesen vier Wochen sind die zwei klein geworden. Er, bis vor kurzem noch ein stattlicher Mann, steht nun täglich gebückt und verloren draußen im Schnee und schaut zum Fenster hinauf und bemerkt wie sie immer mehr in ihrem Rollstuhl verschrumpelt. Wen schützt man mit dieser Maßnahme? Beide wären bereit, sich täglich testen zu lassen, aber Vurschrift ist Vurschrift.
„Barmherzigkeit“ möchte man betteln oder „Gnade“, damit es dieser Baucis und ihrem Philemon gegönnt sein möge, ganz nah beieinander auf den Stufen des Tempels liebevoll miteinander redend in eine Linde und eine Eiche verwandelt, verbunden zu bleiben.
Und dann kam Corona 3.0
Ein Sofa oder ein Fauteuil besitze ich nicht. Auf meinem alten Thonet-Armstuhl liegt ein großes weißes Schaffell, das über die Rückenlehne reicht und ich sage euch, das ist wirklich gemütlich. Noch dazu, wo ich meine Beine auf einem vis a vis platzierten Thonet-Armstuhl-Imitat (schon etwas wackelig aus den 1950er Jahren), auf das ein schwarzes Schaffell drapiert ist, ausstrecken kann. Meine Oberschenkel bedeckt ein angejahrtes, kariertes englisches Plaid aus guter Lambswool. Das mache ich, damit mein alter Kater Fritz, der meine Beine zum gemütlichen Liegeplatz auserkoren hat, mir nicht vor Wonne seinen Krallen in die Oberschenkel bohrt. Derart wohlgeborgen, sitze ich relaxt vor dem Fernseher und Fritzi schnurrt mit geschlossenen Augen Heimeligkeit. Auf dem alten Tisch neben meinem Luxusgestühl steht mein großes, gefülltes Teehäferl und so verfolgen der Kater und ich die ZIB 2.
Auf dem Bildschirm erscheint ein junger Mann mit großen Ohren und tadelloser Frisur, nur sein Anzug scheint etwas knapp zu sitzen – vielleicht ein gutes Stück aus Firmungszeiten. Er spricht und gestikuliert gemessen im Habitus eines älteren Herrn über – ja natürlich – über Corona.
Ich seufze. Neben mir scheint auch etwas zu seufzen. Der Kater ist es nicht, der schnurrt. Die Hündin Lilly starrt seufzerlos ein Loch in die Luft und ist dabei ganz entspannt. Hat mich nicht eben ein Lufthauch gestreift? Die Fenster sind doch zu – es ist Februar. Also nur Einbildung. Ich lehne mich wieder beruhigt zurück, nehme einen Schluck warmen Bio-Chai-Tee und verschlucke mich beinahe vor Schreck. Aus dem Augenwinkel nehme ich etwas Blau-Violettes wahr und gleichzeitig werde ich von einer Frauenstimme angeherrscht: „Vertreibe dieses bewegliche Bild mit dem Großohr!“ Sofort drücke ich auf die Fernbedienung. Das Bild erlöscht.
Ich wage kaum, meinen Kopf zu wenden, um zu sehen, wer da ist. Seitlich von mir erblicke ich eine schlanke, junge Frauengestalt, dunkle Augen, schön geschwungene Brauen, eine kräftige Nase im schmalen Gesicht, einen vollen Mund und bronzefarbene Haut. Die hennaroten, zu kleinen Löckchen gedrehten Haare, trägt sie hochgesteckt, mit einer schön gebundenen Wollkordel geschmückt und gebändigt. An ihren Ohrläppchen hängen große, fein ziselierte Ohrringe aus Messing. Ihr Gewand besteht aus einer Art bis zum Boden reichender Tunika, blauviolett gefärbt, mit einem bestickten Stoffgürtel etwas über der Taille gebunden. Um die Schultern trägt sie ein großes Tuch in Blau mit einer roten Bordüre.
Ich schaue wohl ziemlich dumm drein und der kurze Gedanke: „Faschingsdienstag ist doch vorbei!“ zischt durch meinen Kopf. Dann ein wenig Panik: “Stimmt was mit mir nicht? Schlaganfall, Halluzinationen, LSD im Bio-Chai-Tee, eingeschlafen und seltsam geträumt?“ Aber alles scheint sehr real, der schnurrende Kater, das flackernde Feuer im Ofen, der dampfende Tee im Häferl und Lilly, die ganz ruhig in Richtung dieser etwas seltsamen jungen Dame schaut.
Ich nehme meine Füße vom Thonet-Armstuhl-Imitat – ich will ja Besuchen gegenüber nicht unmanierlich sein.
Wie selbstverständlich duze ich sie: „Sag, wie bist du denn hereingekommen?“
„Das weiß ich selbst nicht. Aber ich weiß, dass es mich viel Mühe gekostet hat, mit einem von euch in Berührung zu kommen.“
Sie spricht mit einem leichten sympathischen Akzent.
Ich zeige auf den schwarz befellten Stuhl: “Willst du nicht Platz nehmen?
„Nein, sei bedankt. Ich bin viel zu echauffiert, friedlos, wütend, entrüstet – ich könnte nicht ruhig sitzen.“ Ihr Deutsch klingt ein wenig altmodisch.
Mein Misstrauen ist stärker als meine Verwunderung: „Die muss sich irgendwie, irgendwann hier reingeschlichen haben. Glaubt wohl, sie könne eine alte Landpomeranze reinlegen.“
Ich bin sicher, dass ich den Haustürschlüssel zwei Mal herumgedreht habe und normalerweise schlägt die Hündin an, wenn ein Fremder kommt oder bereits im Haus ist. Doch Lilly schnüffelt nicht einmal an dieser Frau. Seltsam.
Ich hebe die Katze von meinem Schoß, zwicke mich in meinen Oberschenkel, wache aber nicht auf, weil ich allem Anschein nach nicht schlafe. Eigentlich müsste ich nun einen Angstanfall bekommen. Aber nichts dergleichen.
Die Frau in Blau-Violett geht ruhelos immer wieder fünf Schritte in Richtung Fernseher und zurück. Sie bebt vor Aufgebrachtheit und es bricht aus ihr heraus: „ICH, ich bin Corona!“
Ich denke. „Na, bumm, die Frau hat´s aber ordentlich erwischt!“
„Wow“, sage ich, „bisher hat man mir das Virus aber ganz anders präsentiert. Und für eine weltweite Pandemie siehst du sehr fesch und frisch aus!“
Oh, das ist wohl was sie überhaupt nicht hören wollte. Jetzt wird sie schrill: „Ich bin kein Virus! Ich bin Corona und komme aus der römischen Provinz Syrien, wo man mich brutal ermordet hat“.
Das ist ziemlich schräg für mich – eine Flüchtlingsfrau, die ermordet wurde und Syrien für eine römische Provinz hält, steht vor mir, gestikuliert wie wild, verliert vor lauter Empörung beinahe die Fassung.
Ich muss da Ruhe reinbringen. Sanft sage ich: „Bleib jetzt einmal stehen, atme tief ein und wieder aus. Und noch einmal gaaanz langsam einatmen, und wieder tief ausatmen. Und jetzt erzähl noch einmal, ich werde dir gut zuhören.“
Ein wenig ruhiger redet sie nun weiter: „Ich bin die Corona, die ihr seit über 1700 Jahren als Schutzpatronin gegen Seuchen verehrt, Wallfahrten unternehmt zu irgendwelchen komischen Bildern, die ihr von mir anfertigt und mich um Schutz gegen die Pestilenz, die Pocken, die Lahmheit und den Veitstanz bittet. Wenn ihr das gemacht habt, fühlt ihr euch besser, seid nicht mehr so verängstigt und tut damit eurer Seele gut. Das stärkt doch eure Gesundheit. Ich habe euch also bisher gutgetan.“
Ich, nun ganz wieder in meinem Metier: „Ja, das ist wirklich gut von Dir. Aber sag, bist du nicht auch die Schutzpatronin der Reisenden, der Schatzsucher und der Metzger?“
„Ach, das mit den Metzgern ist ja wohl ridiküler Unfug. Ich bin Vegetarierin und esse nur ab und zu mal Fisch. Das mit den Reisenden stimmt zum Teil, die gehören ja zu einer – wie ihr das heute nennt – „vulnerablen Gruppe“ und stellen sich unter meinen Schutz.“
Jetzt wird sie wieder rastlos, tigert zwischen Fernseher und meinem Sitzplatz hin und zurück und fuchtelt mit ihren Armen: „Und was macht ihr? Ihr zieht meinen Namen in den Schmutz, verhöhnt mich, dabei bedeutet Corona die Gekrönte! Eine ganze Gruppe von Viren nennt ihr Corona. So lange diese Namensschändung nur von ein paar Virologen vorgenommen wurde, hat mich das in meiner Anderswelt, wo ich ohne physischen Körper ausschließlich Seele bin, nicht gestört. Aber jetzt wo mein Name in aller diesseitiger Munde ist und er einem bösartigen Virus verliehen wird, das die ganze Welt umklammert hält, musste ich wieder in meine materielle Hülle zurück. Du hast ja keine Ahnung wie schwierig und aufwändig das ist, wie eng und einschränkend sich so ein Körper anfühlt, sintemal die Seele gelernt hat, sich zunehmend ohne Zeit und Raum zu bewegen. Aber diese Beleidigung hat mich wieder an eure Diesseitswelt gebunden. Ich musste hier jemanden finden, der mich anhört, der das vielleicht weitererzählt, ohne Angst davor einen Märtyrertod zu sterben oder zu einer Dämonenaustreibung gezwungen zu werden.“
Ich beruhige sie. „Na, so schlimm ist das heute nicht mehr. In unserer Zeit landet man einige Wochen in der Psychiatrie, dann wird man medikamentös eingestellt und vielleicht entmündigt.“
Corona meint, dass sie die Zeiten ein wenig durcheinanderbringt, weil die in der Anderswelt keine Rolle spielt:“ Alles ist gleichzeitig und damit zeitlos.“
„Warum spielt das überhaupt noch eine Rolle für Dich mit deinem Namen?“ frage ich sie.
„Mir bleibt nicht viel Zeit! Aber ich versuche, dir das kurz zu erzählen: Weißt du, jüngsthin gehörte ich zur Gruppe der Christen. Die Bewegung bestand da schon an die 150 Diesseits-Jahre. Der, der sie gegründet hatte, hieß Jesus, manche nannten ihn Joshua von Nazareth. Er hatte großartige Ideen von Freiheit, Gleichheit, Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit – weg vom goldenen Kalb. Ich glaube, ihr nennt das Kalb heute Profitgier oder Neoliberalismus. Die Menschen hungerten damals nach einem neuen Miteinander und es entstand eine große – wie sagt ihr heute gleich? – ach ja, eine große Community. Für uns Frauen schien endlich die Zeit gekommen, wo wir nicht mehr die duldenden Dienerinnen waren, fast rechtlos in allen Belangen, sogar unsere Kinder waren Eigentum des Vaters, sondern auf Augenhöhe mit den Männern sein sollten. Naja, bei den Römern war es für uns Frauen ein wenig besser als bei den Griechen, aber bei den Christen war es ganz anders und auch die Männer in unserer Gruppe dachten anders. Wir diskutierten gemeinsam, wir fassten gemeinsam Beschlüsse, verbreiteten genau wie die Männer unsere Ideen und – es ist kaum zu glauben- wir tranken zum Abendmahl gemeinsam mit den Männern unseren süßen Wein. Wir Frauen redeten laut und vernehmlich bei unseren Kundgebungen. Unsere Töchter und Söhne wurden in diesem Geist erzogen.“
Ihre Augen leuchten: “ Es war eine unglaublich hoffnungsvolle Aufbruchsstimmung. Den Obrigkeiten missfiel das, es untergrub – wie ihr das vielleicht heute nennt – ihr Herrschaftssystem. Wir hatten immer wieder große Probleme, wurden phasenweise verfolgt. Das ging von Demütigungen bis hin zur Ermordung unserer Schwestern und Brüder. Ja, so nannten wir uns und fühlten auch so. Allerdings machte sich so um 180 nach Christus schon bei manchen unserer Brüder wieder so ein, um in eurer jetzigen Sprache zu bleiben, Machogehabe breit. Das konnte aber noch gut beiseitegeschoben werden. Viel schlimmer war der politische Druck in den ganzen römischen Provinzen. Häufig mussten wir uns verstecken oder wurden erwischt und vors hohe Tribunal gestellt. Aber wir wollten auf keinen Fall wieder in das Alte zurück, schon gar nicht wir Frauen. Ich war da schon über sechzehn Jahre alt und mit einem lieben Mann verheiratet – mein mir herzinniglich zugetaner Viktor. Wir haben uns gefunden und wurden nicht vermittelt, auch das gehörte zu unseren neuen Wegen, die uns von Joshua und seinen Apostelinnen und Aposteln überliefert worden waren.“
Sie wirkt nun schon ein wenig erschöpft und ich befürchte, dass sie ohnmächtig werden könnte. „Bitte, setz dich doch“. Wie eine Feder schwebt sie auf das schwarze Lammfell des Thonet-Armstuhl-Imitats. „Je größer unsere Bewegung wurde, desto schlimmer wurden wir verfolgt. Es gab allerdings verschiedene Christengruppen, aber unsere Differenzen hielten sich in Grenzen. Na, ich will jetzt nicht abschweifen. Also, Viktor hatte – obschon er Soldat war –seine christliche Überzeugung gelebt. Zu verheimlichen gab es da nichts, wir lebten doch ganz anders als die anderen. Wir taten niemanden was zuleide, aber wir weigerten uns, den verschiedenen Göttern zu opfern. Das waren schon verrückt viele Götter. Für jede Kleinigkeit gab es einen Gott oder eine Göttin und für jeden und jede standen zig Statuen und Figürchen umher, wie die Vorläufer eurer heutigen Gartenzwerge. Wir hingegen waren überzeugt, dass es nur einen Gott gibt, von dem wir uns kein Bildnis machen, der ohne Zeit und ohne Raum ist und noch dazu, nach den Predigten von Jesus, ein liebender Gott.“
Ich will, dass sie auf den Punkt kommt, zumal ich den Eindruck habe, dass sie irgendwie immer durchscheinender wirkt und unterbreche sie: “Ja, mir ist diese Lehre bekannt, aber was war mit Viktor?“ Sie fährt fort mit einem tief bekümmerten Ausdruck: “Viktor war gerade in Antiochia unterwegs – oder war es Damaskus? – und wurde verhaftet, weil er der Christengemeinde angehörte. Er weigerte sich dem Genius des Kaisers zu opfern, auch als sie ihn folterten, und stand felsenfest zu seiner Überzeugung. Mir wurde diese traurige Botschaft überbracht und ich eilte zu ihm, zum Teil zu Fuß, manchmal mit einem Esel, die mir von Brüdern und Schwestern zur Verfügung gestellt wurden. Nach drei Tagen ohne Pause kam ich zu seinem Verließ. Durch die Gitterstäbe reichte ich ihm das Brot und den mit Wasser gemischten Wein. Ein Wächter barmte sich unser und ließ mich zu ihm. Wir umarmten uns und weinten. Er fühlte, dass sich mein Bauch gerundet hatte und war um mich und das Kommende in mir mehr besorgt, als um sich. Dabei musste er schreckliche Schmerzen gehabt haben, sein Rücken war voll blutiger und eitriger Striemen. Ich strich Balsamöl darauf. Dann war unsere Zeit um. Viktor beschwor mich, zuversichtlich zu bleiben. „Es wird so oder so alles gut werden und wir werden für immer vereint bleiben.“
Ich lief früh am nächsten Tag zum Stadthalter und flehte ihn demütig kniend an, Viktor am Leben zu lassen. Doch der meinte nur herablassend: „Du bist ja auch nur eine von diesen christlichen Huren, die mit den Männern gemeinsam essen und Wein trinken. Schwört ab von eurer staatszersetzenden Ideologie, huldigt dem Genius des Kaisers und erzählt euren Mittätern, dass alles falsch ist, was sie verbreiten. Dann habt ihr eine Chance auf Begnadigung.“
Sie schildert mir, wie sie sich nun vor dem Stadthalter stolz aufrichtete, kurz in seine kalten Augen blickte, ihm – was ungehörig war – den Rücken zuwandte und den Säulengang verließ.
„Am nächsten Tag wurde Viktor enthauptet und sein Leichnam verbrannt. Ich klagte zu Gott und der Schmerz zerriss mir fast das Herz. Ich konnte mich kaum auf meinen Beinen halten. Heimlich brachte mich ein Christenpaar in ihr Haus und tröstete mich Untröstliche. Viele Menschen unter Marc Aurel waren verhetzt und voll Hass gegen uns Friedliebende. Einer von diesen Hasserfüllten hatte mein Versteck wohl verraten. So wurde auch ich in das Verließ gesteckt, von den Wächtern, verhöhnt und bespuckt: „Na, du Gekrönte, siehst besonders hübsch aus heute“. In meinem kärglichen Essen waren Käfer und Würmer. Manchmal reichte mir eine mitleidige Seele schnell ein wenig Wasser mit labendem Essig durch die Gitter. Ich als Frau wurde nicht ausgepeitscht, aber für die Wächter war ich frei verfügbar. Einige bedienten sich unter Gejohle an meinem Leib, sie zerfetzten mich innerlich. Ich sehnte nur noch den erlösenden Tod herbei: „Lass mich sterben, gnädiger Gott!“ flehte ich. Aber es war mir aufgegeben, den bitteren Kelch bis zur Neige auszutrinken.
Zu meiner Richtstätte mussten sie mich hin schleifen. Ich bemühte mich aufrecht und gefasst zu gehen. Aber mein geschundener Körper konnte nicht. Ich nahm kaum die hämischen Kommentare der vielen Gaffer wahr, die höhnisch lachend über meinen Namen Corona spotteten. Ich war nur froh, dass diese schreckliche Drangsal bald vorbei sein würde.
Die Wächter feixten: “ Jetzt wirst du an der richtigen Stelle noch etwas geweitet.“ Und nun sah ich auch schon welch niederträchtige Todesart mir zugedacht war: Zwei Palmen waren mit festen Tauen zu Boden gebogen. An den Palmen waren dünnere Sisalseile angebrachte. Damit umschlang man meine Beine. Ich war starr und gefühllos vor Entsetzen. Ich konnte nicht einmal mehr beten. In meinem Kopf war nur ein lauter schriller endloser Ton. Warum hat mein Herz nicht aufgehört zu schlagen, warum füllten sich meine Lungen noch immer mit Luft?
Man ließ sich Zeit. Als meine Beine bereits an den beiden Palmen fixiert waren, las der Stadthalter langsam vom Papyrus meine Verstöße vor, anschließend wurden die Umstehenden noch einmal gewarnt, sich niemals diesem Christenglauben zuzuwenden. Dann durchschnitten zwei Soldaten gleichzeitig die Taue, die Palmen schnellten in die Höhe. Die Sekunden, bis mein Leib in zwei Teile geteilt war, umfassten allen Weltenschmerz.
Und dann, dann war dunkler Friede. Und die Vermaledeiten, die sich an mir vergangen hatten, mussten ihre Schuld ihr Leben lang tragen. Doch gänzlich losgelassen hat mich die Schmach, die man mir als Corona angetan hat, auch in der Anderswelt anscheinend nicht, sonst wäre mir eure Namensverhöhnung egal gewesen.“
Pah, sie erzählt mir das so plastisch, dass ich keinen Moment an ihrer Geschichte zweifle. Sie aber scheint nun ganz gelöst und leicht wie ein Hauch: „Es ist so gut, dass du mir zugehört hast! Forthin werde ich in der Anderswelt meinen Frieden finden. Wirst du es weitererzählen?“
„Ja, ich werde versuchen, es auch für andere aufzuschreiben. Und ich hoffe, dass ich in Zukunft das Virus Covid 19 nenne und nicht deinen Namen.“ Da lächelt sie ein schon entrücktes Lächeln und nickt, beginnt selig ein aramäisches Lied zu singen, breitet grazil ihre Arme aus. Ich meine, ein zartes Klingen kleiner Glöckchen von ihren Fesseln zu vernehmen, als sie beginnt sich zu drehen, immer schneller und schneller, bis sie sich in einen Spiralnebel auflöst und nichts mehr auf diesen Besuch hindeutet.
Vom Nachrichtenschauen habe ich für heute die Nase voll, packe mich warm ein, greife die Taschenlampe und gehe mit dem Hund eine Runde durch die Schwarznacht. Zurück im warmen Zimmer, erde ich mich mit einem außerordentlich guten Glas vom roten Wein, den ich seit Monaten für besondere Momente aufgehoben habe und sage: „Zum Wohl, Corona!“