Olgas Geschichte

 

Ich heiße Olga und meine Biografie verläuft ziemlich linear. Ich bin 74 Jahre alt, seit 50 Jahren mit ein- und demselben Mann verheiratet, habe zwei Söhne, zwei erfolgreiche Schwiegertöchter und vier Enkel im Alter von 20, 17, 14 und 12 Jahren. Nach 35 Jahren als Mittelschullehrerin genieße ich nun schon einige (!) Zeit meine Pension und würde selbiges auch weiterhin gern tun – wenn Corona das zulässt! Als Germanistin war ich Jahrzehnte darauf konzentriert, Texte in Form von unzähligen Schul- und Maturaarbeiten zu korrigieren, nicht aber solche auch zu verfassen – und das fällt mir jetzt gar nicht so leicht, denn was gibt man schon gern von sich preis? Was bringt mich also jetzt dazu, über mich und meine persönliche Erfahrung mit dieser für uns alle so einschneidenden Krise zu reflektieren ? Diese Situation zwingt jeden auf seine Weise, sich damit auseinanderzusetzen, denn: Corona hat so vieles verändert, auch in unserem vulnerablen Biotop, denn natürlich besteht mein Freundeskreis hauptsächlich aus Menschen dieser Altersgruppe, der die besondere Vorsicht und Umsicht gilt. Was also ist tatsächlich anders geworden?

Eines gleich vorweg, der einhellige Tenor dieser Gruppe: Uns geht es verdammt gut, alles andere wäre Jammern auf hohem Niveau. Wir haben keine Sorgen um einen Arbeitsplatz, haben Schul- und Erziehungsprobleme längst hinter uns, fühlen uns meist in der von uns geschaffenen und gewählten Wohnform wohl und erfreuen uns (noch) guter Gesundheit und gut trainierter Mobilität. Wir müssen nicht außer Haus, wenn wir nicht wollen (die mobile Versorgung klappt sehr gut) und leiden dank Digitalisierung auch nicht an Einsamkeit. Also: Nicht mehr berufstätig, freie Verfügbarkeit über Zeit und Raum, und (noch nicht) im Altersheim… Das sind Voraussetzungen, die bei allen im Leben stehenden und von dieser Krise Betroffenen verständlicherweise Neidgefühle auslösen können. Und trotzdem ist so vieles anders:

Ich erinnere mich an den ersten Schrecken, den die frühesten Nachrichten aus Wuhan ausgelöst haben: Mein Gott, was haben die dort für ein Problem, kein Wunder, wenn man diese Märkte mit ihren katastrophalen hygienischen Zuständen kennt. Aber weit genug weg, das trifft doch nicht uns!

Viel näher, vor allem bedrohlicher, waren dann schon die Nachrichten aus Italien: Bergamo, die schöne Altstadt, der Dom, das Baptisterium, eine quirlige Stadt, das kennt man doch… geht uns das etwa auch schon an? Ende Februar waren wir noch in Berlin, die Berlinale war schon stark heruntergeschraubt, weil sich die Filmprominenz nicht mehr zeigen wollte und dieses Corona- Gespenst sich schon beängstigend über dieses großstädtische Berlin senkte. Trotzdem noch keine Rede von Abstand oder Masken, aber doch schon vorsichtiges Auseinanderrücken in der U-Bahn und im Bus, etwas misstrauisches Betrachten des Gegenübers… Und dann in Graz: Einladung zum Klavierabend Rudolf Buchbinders, weil der Karteninhaber sich nicht mehr in den Stefaniensaal traute. Freude über den schönen Platz (ich bin ja sonst Stehplatz- Besucherin…) und völliges Unverständnis, was daran gefährlich sein soll, aber zum Teil schon sorgenvolle Pausengespräche, noch zwischen „lächerlich“ und wer weiß, was daraus noch wird. Dann noch ein bummvolles Chorkonzert in der List-Halle (aus heutiger Sicht geradezu verantwortungslos) und schon besorgte Ermahnungen von den Jungen: Musst du wirklich überall dabei sein?

 

Gerade diese Frage habe ich mir wohl oft gestellt an all den folgenden langen Lockdown-Abenden ohne Theater, Konzert, Vernissage, Literaturhaus, Museum…. Was genau ist mir da abgegangen? Ist es nur die ökonomische Bedingung von Angebot und Nachfrage? Wenn nix ist, kann ich eben auch nirgends hin!
So erschien es mir an sehr kalten oder regnerischen Abenden sogar ganz bequem, mich nicht entsprechend stylen zu müssen, in dünnes Schuhwerk zu schlüpfen, die mühsame Parkplatzsuche auf mich zu nehmen, mich an der Garderobe zwischen nasse Mäntel zu quetschen, um mich dann auf meinen schon angestammten Stehplatz zu begeben…
Und ich ertappte mich dabei, mir einzugestehen, dass ich es vielleicht schwer aushalten könnte, die Garanca oder Netrebko nicht selber gehört zu haben und tags darauf enthusiastische Kritiken zu lesen oder von einer Freundin zu hören, was ich da versäumt habe! Was! Du warst gar nicht da???
Aber diese Reflexionen erwiesen sich bald als trügerisch, als nach vielen abendlichen TV-Tiersendungen mit röhrenden Hirschen und kopulierenden Fröschen die Sehnsucht nach echter Konzert-Atmosphäre, der prickelnden Stimmung im Saal, das Stimmen der Instrumente und auch das Wiedersehen mit bekannten Gleichgesinnten immer drängender wurde.

Aber der Reihe nach: Anfang März, wie wir wissen, verdichteten sich die gefährlichen Nachrichten aus dem uns so nahen Norditalien, untermalt mit schrecklichen Bildern und einer Fülle von Informationen, die unseren Wortschatz gehörig erweiterten. Schluss mit den Witzen über Corona-Bier, mit all den mehr oder weniger geschmackvollen Videos, die auf WhatsApp eintrudelten: Die täglichen Nachrichten, noch einigermaßen beruhigend vom Corona-Quartett kommentiert, versetzten uns schon in Angst und Schrecken, gelten doch wir als besonders gefährdet. Aus „Epidemie“, noch ein eher geläufiger Begriff, wurde nun „Pandemie“ – gefährlich und todbringend.
Trotzdem: Unser beschauliches Dasein am Stadtrand, mitten im Grünen in einem hübschen Haus, das Platz genug für Zwei bietet, schien nicht besonders durcheinander zu geraten.

Am täglichen Ablauf hat sich ja gar nicht so viel verändert, außer dass die Lektüre der Zeitung von Tag zu Tag länger wurde mit all den sich überstürzenden Nachrichten. Aber gerade die Zeitung wurde zu einem ganz wichtigen Bindeglied zur Außenwelt, und wir dankten unserem „systemrelevanten“ Zusteller für die pünktliche und gewissenhafte Lieferung, wie wir überhaupt voller Hochachtung all jene bewunderten, die sich um die Aufrechterhaltung eines so aus den Fugen geratenen Alltags kümmerten. Aber dann kamen die ersten Einschränkungen, die uns zunächst noch gar nicht so bewusst waren:
Familienfeiern zum 70. Geburtstag – unmöglich, abgesagt, eine 80er Feier konnte nur noch digital stattfinden (außerdem kein Friseurtermin, wie sieht man denn da aus?).
Schnell einmal bei den Kindern vorbeischauen – geht nicht, weil nicht erlaubt – gerade einmal die gefüllten Paprika vor die Türe stellen und von Weitem winken. Kein Umarmen der Mädchen, nur auf Sicht mit gebührendem Abstand, das war und ist wirklich schmerzlich. Oder der Besuch bei meiner 96-jährigen Mutti, die zwar noch jeden Tag die Fernsehnachrichten verfolgt, aber immer wieder erstaunt fragt: Was ist dieses Corona eigentlich? Und nicht versteht, warum keine Besuche kommen und überhaupt so wenig los ist!
Und dann diese seltsame Stille im ersten Lockdown: kaum Verkehr, keine Flugzeuge, leere Straßen, geschlossene Cafès und Gasthäuser usw.
Dafür aber: früher kaum beachtetes Vogelgezwitscher, genaueres Betrachten des erwachenden Frühlings und Freude über jedes Blümchen, das sich da und dort schon zeigte.
Und meine urbanen Freundinnen wussten plötzlich die Schönheiten meiner sonst eher belächelten ländlichen Umgebung (wie kann man nur so weit „draußen“ wohnen!) zu schätzen, indem wir mit gebührenden Elefanten-Abstand ausgedehnte Wanderungen unternahmen.

Wie wir überhaupt das Gehen neu schätzen lernten: Wir hatten viel mehr Zeit und weniger Ziele, da ja zu Beginn auch unser Wanderparadies noch eingeschränkt war. Plötzlich entdeckte man so viel Neues, der Weg wurde zum Ziel und man musste gar nicht mehr unbedingt in die Ferne schweifen… Einige meiner Freundinnen nahmen es auch sportlich, zählten die Schritte, summierten die Kilometer, indem sie dreimal wöchentlich auf den Schöckl liefen – und betrachteten Corona als körperliche Herausforderung! Aber auch Kreativität wurde geweckt: So organisierte meine Musiker – Freundin wöchentliche Konzerte in ihrer Gasse; und siehe da, welch nachbarliche Talente sich unversehens auftaten, von denen man gar nichts gewusst hatte. Da holte einer seine verstaubte Trompete vom Dachboden, die lang nicht mehr gezupfte und verstimmte Gitarre bekam neue Saiten, und das Singen von Volksliedern bis zu den Beatles auf den verschiedenen Balkons war ja trotz der umherschwirrenden Aerosole erlaubt. Bald wurden diese improvisierten Minikonzerte zum fixen gemeinsamen Höhepunkt in einer sonst eher ereignislosen Woche. Unser Leben, ohnehin schon lange beschaulich und höchstens von selbstgemachtem Stress bestimmt, verlangsamte sich nun noch mehr: Man musste nirgends mehr hin, weil man erstens sowieso nicht durfte und zweitens eh nichts los war. Es lockte kein Schaufensterbummel mit irgendwelchen Shoppinggelüsten, gekrönt mit anschließendem Prosecco – Genuss und Freundinnentratsch, kein Blick auf Neuerscheinungen in der Buchhandlung, was so nebenbei auch das Geldbörserl schonte… Dafür aber die Erkenntnis, dass die eigene Bibliothek ohnehin rammelvoll ist mit seit Jahren ungelesenen Büchern, die nach Erlösung aus ihrem Dornröschen–Schlaf riefen. Was es da nicht alles gab an längst verloren geglaubten Schätzen! Aber nicht nur das: Vieles wollte auch aussortiert, weggegeben oder geordnet werden, für mich mit meinem bibliophilen Hang eine wahre Sisyphos–Arbeit, da ich mich ja nicht einmal von längst überholten und vergessenen Autoren trennen kann. Muss ich wirklich noch einmal Böll, Frisch oder Dürrenmatt lesen? Eine wirklich gründliche Durchforstung dieser Bestände würde allerdings noch mehrere Lockdowns benötigen… Apropos Ordnen und Räumen: Der Rückzug ins Biedermeierliche eröffnete auch eine völlig neue Sichtweise auf längst vertraute, fast schon liebgewonnene Schlampereien in der häuslichen Umgebung. Müssten nicht Keller, Dachboden, Speise– und Wäschekammer von längst Überflüssigem befreit werden? In einem eher seltenen Anlauf von Energie wurde der Baumarkt konsultiert, Regale angeschafft und auch gebaut – auch bei Männern müssen wegen geschlossener Fitnessstudios und Tennishallen–Verbote ungenützte und brachliegende Energien andernorts fokussiert werden!

Aber irgendwann wurden auch diese Arbeiten ermüdend und sträflich langweilig, kann man doch nicht pausenlos in der Vergangenheit wühlen und sich sentimental daran erinnern, wo man den schicken italienischen Pulli gekauft hat und wie problemlos die Jeans in Größe 38 noch gepasst haben. So wurden die täglichen Nachrichten immer gieriger verfolgt und das Corona Quartett wie die biblischen Propheten mit der erlösenden Nachricht erwartet, wann dieser gespenstische Zustand ein Ende haben wird oder ob überhaupt ein solches zu erwarten ist…und der düstere Horizont begann sich tatsächlich zu lichten: für den Wonnemonat Mai wurden, Nomen est Omen, zaghafte Öffnungsschritte verkündet. So sollten Geschäfte, Gasthäuser und Restaurants wieder geöffnet, vor allem aber das wochenlang daniederliegende gesellschaftliche Leben „hochgefahren“ werden – selbstredend mit all den ständig verkündeten und bis zum Überdruss in den Medien verbreiteten Vorsichtsmaßnahmen (nach der jetzigen Durststrecke war das ja eine geradezu lächerliche Zeitspanne…) Aber wie genoss man doch so kleine und früher selbstverständliche Freuden wie den Besuch einer Pizzeria, wo man sich zwar geduldig anstellen musste und dankbar den zugewiesenen Tisch ansteuerte, den man früher nicht akzeptiert hätte – aber es war halt wie nach einer langen Diät, man war froh über die neugewonnene Freiheit und glücklich, wieder unter Leuten zu sein und andere Gesichter zu sehen.
Und dann kam ein überraschend leichter Sommer mit lieben Freunden im plötzlich so geschätzten Garten, kleinen Radtouren in die Umgebung, wunderbar organisierten Styriarte-Konzerten, deren verkürzte Dauer ohne den obligatorischen Pausen – Smalltalk man eigentlich wohltuend empfand – abgesehen von dem ungemeinen Genuss, Musik wieder im Konzertsaal erleben zu dürfen und die sichtbare Freude der Musiker zu sehen, die endlich wieder vor Publikum spielen durften. Schöne Tage in Millstatt, zunächst noch ganz unbeschwert, bis eines der beliebtesten Lokale wegen Corona geschlossen wurde und die alte Angst vor diesem Gespenst wieder hochkroch…

Im Nachhinein frag ich mich, wie wir diesen langen Herbst verbracht haben: uns ging’s ja bei allen Einschränkungen unverschämt gut, konnten wir doch noch einige spätsommerliche Tage im Burgenland anhängen und sogar im letzten Abdruck noch in unser geliebtes Grado, nicht wissend, dass dieses Urlaubsgefühl nun für viele Monate konserviert werden musste. Aber wie gut es uns tatsächlich ging, das muss ich immer wieder betonen, wenn man an all jene denkt, die von diesem Jahrhundertereignis tatsächlich getroffen und in ihrem Leben und Alltag in einem nie zuvor vorstellbaren Maß eingeschränkt oder sogar existentiell bedroht sind.

Nicht genug, gehören wir auch zu dieser privilegierten Gruppe, die vor allen anderen, die es aufgrund ihrer Berufstätigkeit viel nötiger hätten, schon geimpft sind und daher schon etwas lockerer, wenn auch nicht leichtsinnig in die Zukunft blicken, eine Zukunft, von der wir uns nur wünschen können, dass sie den jungen Menschen all das zurückgibt, worum sie in diesem so schwierigen Jahr betrogen wurden.